Felix Krulls OeTTIGANG: Wie man ein Movement gegen die Wand fährt

Wenn man einen Artist wie Felix Krull beleuchtet, muss direkt klar werden, worum es alles nicht geht. Der - sagen wir einmal - Lebenswandel des Münchners bietet schließlich Stoff für unendlich viele (verstörende) Geschichten. Hier soll jetzt nicht jede einzelne Grenzüberschreitung oder sein mitunter straffälliges Verhalten durchgerattert werden. Vielmehr enthält die Story rund um den Aufbau, Aufstieg und Absturz seiner OeTTIGANG genügend Anschauungsmaterial für einen Crash mit Ansage. Die gängige Warnung "Bitte nicht nachmachen!" lässt sich dabei auf einen gesamten Karriereplan anwenden. Ein grober Überblick über die privaten Konsequenzen wurde bereits zum Bestandteil einer Doku.

Durch Felix Krulls offenherzigen Umgang mit dem Niedergang der OeTTIGANG ist gut nachvollziehbar, wie zunächst geschicktes Marketing eine zerstörerische Eigendynamik annehmen kann. Speziell in einzelnen Episoden seines Podcasts "Gottloses Gelaber" wird deutlich, wie genau der Rapper sich und seine Entourage nach und nach in eine Abwärtsspirale manövriert. Das sind die Stufen des OeTTIGANG-Hypes: vom kollektiven Rausch bis zum Kater danach.

Stufe 1 – Tu, was du liebst

Im Prinzip nimmt der Titel der ersten Felix Krull-EP seine gesamte spätere Laufbahn vorweg: "Vom Koksstein zur Freiheit". Doch so schnell lässt sich das Ganze natürlich nicht abwickeln. Felix Krull hat schon früh in seiner Karriere verstanden, dass er ein Alleinstellungsmerkmal braucht. Inszenierungen als Stemmer mit "Clockwork Orange"-Attitüde und Kitschlord in rosa SS-Garderobe sorgen außerhalb seiner Heimat nicht für den großen Buzz. Erst als er 2017 den Alman in sich stark überzeichnet nach außen kehrt, kommt wirklich etwas in Bewegung. Von relativ unnahbar und aristokratisch verschiebt es sich nach und nach gen asozial. Doch das sei "nicht definiert" genug gewesen, erklärt der Rapper in seinem Podcast mit Producer und Songwriter Randy Robot. Also spitzt der später selbst ernannte "Prototyp Alman" seine Rolle noch weiter zu und verschreibt sich vollkommen der Marke OeTTINGER. Ein Bier aus dem unteren Preissegment. Er dreht den Alman zusätzlich in Richtung Punk. Vor dem Hintergrund einer Skater-Vergangenheit und als bekennender "Jackass"-Fan wirkt dieser Schritt regelrecht organisch.

Popkultur und die Mechanismen des Internets hat Felix Krull sowieso verstanden. Der Twitter-Grind um das Alman-Life sucht schon vor der Gang-Ära seinesgleichen, musikalisch verschmilzt etwa French Montanas "Unforgettable" für den Track "Bier" mit Snoop Doggs "Drop It Like It's Hot": Da weiß jemand sehr genau, was funktionieren könnte und welche Entwicklung Rap nimmt.

Gemeinsam mit einem Videografen, den Felix Krull auf Peter Pervers tauft, wird schließlich die OeTTIGANG ins Leben gerufen. Unter diesem Namen läuft dann alles zusammen. Mit dem "Showdenken" von Peter Pervers ausgestattet, steht der Plan für Felix Krull fest. Er will etwas erschaffen, das die bisherigen Vorstellungen sprengt.

"Die krasseste Boyband ever. Das war meine Vision."

Teil dieses Zukunftstraums sind zunächst Felix Krulls leiblicher Bruder, der unter dem Pseudonym Nicky Nice rappt, sowie ein Jugendfreund, der als Frank Weiss zur Gang dazustößt. Im weiteren Verlauf kommen mit Domo Santana und King Asozial weitere Akteure hinzu. Letzterer wird als Autist beschrieben.

Ein angeblicher Ratschlag von Deutschrap-Ikone Sido stößt bei der Crew und vor allem bei Felix Krull schon früh etwas an. Um in der Szene noch etwas bewegen zu können, müsse die OeTTIGANG krasser sein als etwa die 187 Straßenbande, soll der Ex-Aggro-Rapper gesagt haben. Abseits der Musik ist das fraglos gelungen.

Stufe 2 – Content, Content, Content

OeTTIGANG: Das bevorzugte Getränk ist durch den Namen bereits vorgegeben. Es gibt zudem eigene Sprach-Codes. Ebenso setzt sich eine gewisse Uniformierung durch. So eine "OeTTIGANG-Montur" besteht gerne aus Warnweste und blau-weißer Kleidung. Das schafft ein Gruppengefühl. Die OeTTIGANG ist bald viel mehr als eine Idee im Kopf von Felix Krull. Das Handzeichen Schieberfuchs schiebt auch außerhalb einer süddeutschen Bubble. Vollkommen "logisch" wird der Slang von Felix Krull und Co. ebenso von anderen Rappern benutzt. Dazu ist die Musik auf den veröffentlichten Tapes sehr anschlussfähig. Bonez MC und RAF Camora sind im PS-Wahn ("500 PS"), Felix Krull und Frank Weiss leben im Promillerausch ("500 Promille"). Statt wie Fler und Jalil "Bewaffnet & Ready" zu sein, versammelt sich die Crew "Besoffen vor Penny". Exzess regiert in den Songs, und Exzess regiert bei den öffentlichen Auftritten.

Parallel dazu läuft eine Content-Maschine an, die Felix Krull wiederholt in Lebensgefahr bringt. Was der Münchner da abzieht, gleicht einem sich ständig neu ereignendem Unfall, bei dem man nicht wegschauen kann. Es geht um Mutproben, die an jeglicher Zurechnungsfähigkeit zweifeln lassen. Das ist die "Jackass"-Komponente. Nach der "Essig-Challenge" ist der vermeintliche Spaß auch beinahe für immer vorbei. "Da bin ich reanimiert worden", schildert Felix Krull in der SWR-Talkshow "Nachtcafé". Ein Liter Essig hatte sich der Bayer zuvor über einen Trichter zugeführt. Nebenbei ist Felix Krull in dieser Zeit zudem als Doc unterwegs und testet sich durch allerlei Substanzen. Es gibt zum Beispiel Reviews zu den härtesten Drogen ab. Dabei besteht kaum ein Zweifel daran, dass hier wirklich die ganze Palette durchprobiert wurde. Ein weiteres Format: "99 Dinge, die (k)ein Rapper macht". Einzelne Episoden finden sich noch als Reupload auf YouTube. Andere Member der Gang stellen sich ebenso persönlichen Mutproben und rauchen mal eine "Ekelbong". "So viel Output wie möglich" soll es nach Wunsch von Felix Krull sein.

Die Klickzahlen der geballten Promo-Offensive stehen nie im Verhältnis zu Ekel und Selbstgefährdung. Trotzdem wird durchgezogen – mit Betonung auf ziehen. Und völlig verfehlt es seinen Zweck nicht. Zwar ist die OeTTIGANG weiterhin nicht die 187 Straßenbande, aber die Stunts bringen genügend Aufmerksamkeit für das eigentliche Boyband-Projekt.

Die OeTTIGANG stellt eine eigene Tour auf die Beine und begegnet den Menschen, die sich mit dem Movement verbunden fühlen. Die Bierschiss-Tour beschreibt Felix Krull als ein "Highlight" seiner Laufbahn. Auch dank dieses Ego-Boosts merkt das OeTTIGANG-Mastermind, dass etwas in Bewegung gekommen ist. Die Gruppe taucht zur Corona-Zeit sogar bei Sido im Livestream auf. Den Großraum München haben die Jungs hinter sich gelassen. Sie sind mehr als ein bloßes Lokalphänomen. Das gelingt mit einer ordentlichen Portion DIY-Idealismus. Der "Worldstar-Gedanke" spielt eine Rolle. Auf der US-Plattform lassen sich Rap-Videos, aber genauso Straßenschlägereien betrachten. In dem Treiben seiner OeTTIGANG erkennt Felix Krull rückblickend "die Definition von viral". Und das alles mit (oder wegen) "Alkoholiker- und Junky-Content". Was den Aufstieg anfänglich begünstigt, wird mehr und mehr zum Problem.

Stufe 3 – immer extremer, bis zum Kollaps

Der große Spaß samt viralen  Tracks, Connections in die erste Liga Deutschraps und einer wachsenden Fangemeinde kann unter den bekannten Voraussetzungen nicht von Dauer sein. Das Ende kündigt sich schleichend an. Dennoch hebt Felix Krull einen Streit innerhalb der OeTTIGANG als zentral hervor. Durch einen geplatzten Pornodreh im Jahr 2019 (die Darstellerin ist nicht aufgetaucht) sei "ein irreparabler Knacks" entstanden. Die OeTTIGANG-Gründer Felix Krull und Peter Pervers hätten sich aus Frust über die gescheiterte Produktion eine Woche durchgehend die Nase gepudert. Inmitten dieses "Junky-Lifestyles" sei ein Zoff um Geld entbrannt. Für Felix Krull ist das aus heutiger Sicht der "erste krasse Downer" im OeTTIGANG-Universum. Auch eine körperliche Auseinandersetzung vor Publikum (erneut zwischen Felix Krull und Peter Pervers) habe verdeutlicht, dass der Konsum überhandgenommen hat. Dem Rapper sei bei dieser Eskalation eine "Sicherung durchgebrannt". Der Videograf verabschiedet sich schließlich aus dem Umfeld.

Der Abgang des Gründungsmitglieds führt zu zusätzlichem Stress. So soll er auf eigene Faust versucht haben, die Brand OeTTIGANG schützen zu lassen. Es sei die Bemühung gewesen, "die Marke mir wegzunehmen", so Felix Krull. Stark geklickte Musikvideos, die unter der Regie von Peter Pervers entstanden sind, gehen offline. Alles habe Felix Krull "nur noch Kopfschmerzen" bereitet. Absehbar sind diese Entwicklungen für ihn offenbar die gesamte Zeit.

"Wenn man 'ne Crew auf schwerstem Alkoholismus und Drogenkonsum aufbaut, ist es eigentlich klar, dass es irgendwann krachen muss."

Darüber hinaus beschreibt Felix Krull Probleme, die seinen Bruder Nicky Nice betreffen. Diesem hätte es unter anderem an Zuverlässigkeit gemangelt. Gleichzeitig habe er nicht im Schatten des OeTTIGANG-Strippenziehers stehen wollen. Auch Frank Weiss soll mehr ins Rampenlicht gedrängt haben. Felix Krull will mit einer "fairen Verteilung der Aufgaben" dafür sorgen, dass alle Member gleichberechtigt sind. Doch die vorgesehene Gründung eines gemeinsamen Unternehmens führt offenbar bei einigen Akteuren zur Überforderung. Dies sei der "Todesstoß" der OeTTIGANG gewesen. Ein Casting für einen Neuaufbau der Gang mündet im Chaos. Felix Krull hat wegen seiner eigenen Drogenabhängigkeit schon "kein[en] Durchblick" mehr. Musikalisch zerfasert das Kollektiv vollends. Jeder macht fortan mehr oder weniger sein eigenes Ding. Die Tape-Reihe "Jung bisexuell geisteskrank" bleibt als eine Art Vermächtnis übrig.

Statements der Kern-Member Nicky Nice und Frank Weiss stehen zu der Darstellung von Felix Krull in keinem Widerspruch. Der jüngere Bruder bestätigt vielmehr eine Form von Überforderung. Es habe in der OeTTIGANG einen "Content-Druck" gegeben.  Ebenso sei er vielen Aktionen am Start gewesen, bei denen er sich "nicht gut gefühlt" habe. Mitunter sei er sich "ausgenutzt" vorgekommen.

Frank Weiss bleibt ebenso eher im vagen Bereich. Ihm sei es "zu creepy" geworden. Auch er sei mit "Situationen nicht mehr cool" gewesen. Es habe für ihn kein "gesundes Verhältnis" mehr zu Felix Krull gegeben. Um einen Eindruck davon zu gewinnen, was es heißt, wenn hier etwas "nicht mehr cool" ist: Frank Weiss hat sich für die OeTTIGANG dabei filmen lassen, wie er "Cevapcici" isst. Statt der Balkanspezialität gab es allerdings Hundekot.

Alles auf Anfang

Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Untersuchungshaft ist Felix Krull weiter als Musiker aktiv. Der Münchner hat in der JVA Stadelheim unter anderem wegen Fluchtgefahr eingesessen. Ein Gericht sieht bei der späteren Verhandlung den Straftatbestand der gefährlichen Körperverletzung als erwiesen an. Felix Krull gibt in dem Prozess zu, seine Partnerin verprügelt zu haben. Eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und vier Monaten ist die Folge.

Zusammen mit seinem Podcast-Partner Randy Robot releast er 2024 Tracks, die thematisch nicht unweit des OeTTIGANG-Spektrums liegen. Die Single "Christoph Daum" etwa schiebt weiter ordentlich an.

Doch der Lifestyle hinter der Musik ist - zumindest laut eigenen Aussagen - nicht mehr deckungsgleich mit Inhalten der Songs. Mit den anderen OeTTIGANG-Membern scheint sich der Familienvater auch wieder angenähert zu haben. Nicky Nice berichtet in einem Video aus dem Sommer 2023 von einer Therapie, die er in Angriff nehmen will. Inzwischen hat er mit "Therapie ohne Ende" ein Soloalbum gedroppt. Frank Weiss releast 2024 ebenfalls noch Tracks. Diese lassen jedoch kaum Rückschlüsse auf seine OeTTIGANG-Zeit zu. Eine eher randständige Figur wie Domo Santana scheint sich vollends verabschiedet zu haben. Was Reichweite, Aufmerksamkeit und Aufrufe angeht, hinken alle ihrer exzessiven Vergangenheit hinterher.

Es ist paradox: Hochphase und Tiefphase sind bei der OeTTIGANG eins. Alle Beteiligten haben sich mehr oder weniger deutlich eingestanden, dass alles viel zu extrem wurde. Im Rausch zusätzlich einem Rauschgefühl hinterherzujagen, kann kein gutes Ende nehmen. Das permanente Wetteifern um mehr (digitale) Anerkennung hat der OeTTIGANG schließlich den Stecker gezogen. Vor allem Felix Krull ist jedoch zuzutrauen, auch abstinent noch einmal eine Zeitgeist-Welle mitzunehmen. Wer, wenn nicht er, weiß, wie man es besser macht? Die Headline des Artikels hätte man um den Zusatz "und nicht daran zerbricht" erweitern können. Doch dieser Weg ist eine andere Geschichte.

 

Kategorie

Groove Attack by Hiphop.de