Disarstars "Deutscher Oktober" – Revolution zur rechten Zeit

Durch die Corona-Pandemie ist die Welt gerade im wahrsten Sinne des Wortes "Sick." Ein Disarstar-Album entfaltet in diesen Tagen eine andere Intensität. Selbst wenn man Covid-19 aus allem herausrechnet, krankt es an allen Ecken und Enden. Disarstar redet sich nicht ein, dass es bis hierhin noch ganz gut lief, sondern klagt an.

Sein Rezept für ein besseres Miteinander lässt Marcus Staiger in die Hände klatschen. Der mitunter radikalen Kapitalismuskritik muss sich niemand anschließen, aber so pointiert wie auf "Deutscher Oktober" hat es der Hamburger Rapper bisher in seiner Musik noch nicht ausformuliert. Diese Einschätzung teilt er auch selbst. Aber: Was macht das "mit Abstand beste, stimmigste Projekt bis jetzt" aus?

Keine "lächerlichen Schlagerhits": Disarstar packt Hiphop bei der Wurzel

In Disarstars Gesellschaftsanalyse spielt permanent das Wesen von Hiphop hinein. Besonders die Single "Australien" holt neben dem Reality Check für privilegierte Kids einen der Kerngedanken hervor. Es über die Kunst aus widrigen Umständen herausschaffen: Das ist die DNA der Kultur. Diese Einstellung serviert Disarstar als Punchline.

"Jede Zeile könnt' es sein, mein Ticket aus der Scheiße / Multitasking, weil ich Köpfe ficke, wenn ich schreibe"

Auch die Lust an der Competition trägt der Hamburger selbstbewusst nach außen. Er lässt die lyrischen Muskeln spielen – nicht nur im "Intro (Balenciaga)". Es braucht aus seiner Sicht nicht viel, um der Konkurrenz die Grenzen aufzuzeigen: "Gib mir 808 und 'n Klavier, deine Jungs werden rasiert." Die finalen Scratches machen "Australien" schließlich zur Verbeugung vor der alten Schule. Die "Galerie ist die Straße", heißt es darüber hinaus in "Verloren". Die Platte umarmt alle Facetten des Protests.

Dabei rückt Disarstar ins Bewusstsein, auf welcher Seite Rap sich ursprünglich positionierte. Die Musik trifft klare Aussagen über den alltäglichen Wahnsinn, die Ungerechtigkeit, verlorene Hoffnungen – es ist die Forderung nach einem besseren Leben. Rap ist wieder ein Soundtrack für alle, die nicht auf der Sonnenseite unterwegs sind. Die Jagd nach dem schnellen Geld, weil das System Teilhabe erschwert, ist die Essenz von Straßenrap. Disarstar bleibt nicht bei der bloßen Beschreibung solcher Umstände. Er geht einen Schritt weiter und bietet eine Alternative zur herrschenden Ordnung an.

Disarstar beschwört den Klassenkampf

Wer sein Album "Deutscher Oktober" nennt, der möchte politisch wahrgenommen werden. Disarstar hielt mit seiner Einstellung noch nie hinter dem Berg. Der viel zitierte Klassenkampf ist sogar im Titel des Vorgängers verankert. Doch daneben steht gleichberechtigt "Kitsch". Den Hang zum Gefühls-Overload ersetzt Disarstar auf diesem Album mit aufgestauter Wut. Die Corona-Pandemie hat dahingehend offenbar die Sinne geschärft. Wie er beim "Bunker:Talk" mit Staiger ausbreitet, ist sein Album letztendlich auch ein Produkt der diffusen Lage. Das "Elend" vor seiner Tür habe er durch die Krise viel deutlicher vor Augen geführt bekommen.



Auch wenn "Deutscher Oktober" eher willkürlich auf die RAF verweist und ein angepeiltes Release Date im Oktober ursächlich für den Albumnamen ist, durchdringt die Musik ein Wille zum Widerstand. Widerstand gegen ein System, das den NSU morden lässt, das Black Lives Matter überhaupt notwendig macht und das diejenigen begünstigt, die es eh schon gut getroffen hat. Der Rechtsruck wird hier nicht einfach geschluckt. Disarstar nennt die Dinge beim Namen: Seehofer, Reichelt. Feindbilder sind Bonzen, die Politik und das Geldsystem. Wie es ausarten kann, schildert Disarstar als Gewaltfantasie in "Touchdown": "Zeckenbiss, Wohlstandsplauze, Messerstich". Für die sozialen Schieflagen wählt er immer wieder einprägsame Bilder:

"Dein Chef hat 'n Lambo und zahlt dir 8,50, wer ist hier Gangstеr?"

Die Welt, in die wir hineingeworfen werden, ist für Disarstar Amerika. Man muss nicht Marx gelesen haben, um die nahezu absurde Ausprägung des Kapitalismus nachempfinden zu können. Der Hamburger Rapper steht bei Marcus Staiger für ein anderes Konzept ein:

"Ich will eine Gesellschaft, in der jede Rolle in dieser Gesellschaft - egal, ob Mann, ob Frau, ob schwul, ob hetero, ob Schwarz, ob weiß, egal, welche Position in dieser Gesellschaft - eine erträgliche, würdige, lebenswerte ist. Jede Situation. Ich will eine Zielgerechtigkeit!"

Disarstar diagnostiziert den gesellschaftlichen Zustand seit geraumer Zeit entlang diverser Alben, Mixtapes und EPs. Nur dieses Mal lässt Disarstar das Energie-Level nicht absinken. Es geht durchgehend rau zu. Als Anschauungsbeispiel für das soziale Ungleichgewicht dient ihm auf "Deutscher Oktober" immer wieder sein Kiez.

Hamburg City als eine Welt, die (fast) jeder kennt

Es ist nicht nur das "Großstadtfieber", das Disarstars Verbundenheit zu seiner Heimatstadt Hamburg Ausdruck verleiht. Häufig kommt der 27-Jährige im Zuge des Albums auf die Hansestadt und seinen Kiez zu sprechen. Seine Schilderungen der "Ghettokönige ohne einen Cent" ("24/7") oder von dem "Typ auf der Treppe", der froh ist, "wenn er trinken und rauchen kann" ("Nachbarschaft") lassen sich ohne Weiteres übertragen.

Die Auswüchse der Schere von Arm und Reich gibt es in jeder Großstadt zu beobachten. Die Reeperbahn ist nunmal Disarstars unmittelbare Umgebung. Dort sammelt er seine Eindrücke, die in die Texte einfließen. Was auf ihn einschwappt, mag hier und da wie ein "Tsunami" wirken. Doch er weiß damit umzugehen: "Ich bin Hamburger, Digga, ich inhaliere den Regen". Mit ähnlicher Hingabe hat auch Ansu letztes Jahr den Stadtteil St. Georg vorgestellt. "In meiner Gegend" erzählt ebenso von den Widersprüchen in der Hood. Solche gegenläufigen Strömungen finden sich bei Disarstar selbst wieder. Er steht beim Major unter Vertrag, obwohl er all das, wofür diese Industrie-Gigant steht, abzulehnen scheint. Das macht seine Ansichten und Ideale jedoch nicht weniger glaubhaft.

DAZZIT, Nura, HAVS & Co: Disarstar setzt auf die richtigen Leute

Disarstar hat sein wohl rundestes Werk nicht allein auf die Beine gestellt. Der Sound der Platte geht auf das Konto von HAVS. In einem aktuellen Interview bei Diffus gibt Disarstar preis, dass ein gewisser Pop Smoke mit seinen düsteren Drill-Vibes hier Einfluss genommen hat. Die Tracks des verstorbenen US-Rappers hätten viel zum generellen Stimmungsbild beigetragen und wären bei der Produktion "rauf und runter gepumpt" worden.

Neben Disarstar ist in den Credits Fayzen gelistet. Der Hamburger Singer-Songwriter hat an jedem der zwölf Tracks mitgewirkt. Die offensichtlicheren Feature-Artists entpuppen sich als durchgehende Bereicherung. Nura, ESO.ES und DAZZIT tauchen gleich mehrfach auf. Mit BOZ erzeugt ein Hamburger-Urgestein zudem den Fight-Club-Spirit, den es für einen Song wie "Tyler" braucht. Trotz der zahlreichen Auftritte anderer Künstler*innen schleichen sich keine Brüche ein. "Deutscher Oktober" wirkt ausbalanciert. Bei vergangenen Projekten baute Disarstar sowohl auf textlicher als auch auf musikalischer Ebene gerne mal einen Schlenker ein. Jetzt erscheint alles aus einem Guss.

Der rote Faden macht sich auf visueller Ebene bemerkbar. Tim Erdmann hat mit den sechs veröffentlichten Videos eine bedrückende Welt inszeniert. Nur sporadisch kommt Farbe zum Einsatz. Das gewählte Bildformat verstärkt ein Gefühl der Enge. "Unser Leben 'La Haine'", rappt Disarstar auf der Vorabsingle "Sick" und gibt bereits vor, was er auf seinem fünften Studioalbum bis ins Detail beleuchtet. Der französische Filmklassiker über das Leben in den Banlieues endet mit einem Schuss. Disarstars Schlusskapitel "La Fin" gerät versöhnlicher. Was bis hierher alles schlecht lief, hat er sich ja schon im Vorfeld konsequenter denn je vom Herzen geschrieben.

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