"The Eminem Show" ist das beste Album von Eminem!

Zum Geburtstag der "Marshall Mathers LP" erklärte mein Kollege David Molke, warum das Album von 2000 die beste LP von Eminem sein soll. Zum heutigen Geburtstag des Nachfolgers halte ich dagegen und behaupte, "The Eminem Show" ist besser.

Man muss sich mal in diese Lage versetzen: Du bist 29 Jahre alt – ungefähr die ersten 25 Jahre davon waren größtenteils ziemlich beschissen. In einem Trailerpark in Detroit, Vater weg, Mutter drogenabhängig. Die letzten vier Jahre haben dir mehr Geld, Frauen, Drogenexzesse und Fans eingebracht, als du jemals für möglich gehalten hättest. Und neue Probleme; auf ganz neuen Ebenen. Du stehst im Spotlight. Applaus, Liebe, fanatische Anhänger. Gegner protestieren gegen deine Texte, öffentliche Wut, Kritiker bewerten jeden deiner Schritte. Währenddessen bist du Eminem, Marshall Mathers und der Dad eines kleinen Mädchens zugleich.

"It's my life, I'd like to welcome y'all to The Eminem Show"

Um die Jahrtausendwende springt Eminem von Level zu Level zu Level. Der Endboss klopft bald in Gestalt von Schlafstörungen an die Tür, die einen jahrelangen Kampf mit verschreibungspflichtigen Medikamenten und schließlich eine Überdosis Methadon nach sich ziehen. Während "The Eminem Show" recordet wird, spielt das alles noch keine große Rolle – Marshall Mathers steht auf dem Zenit seiner Karriere und er liefert ein Album ab, das seinen Status als Rapsuperstar für immer in Stein meißelt. Nie wieder danach fühlt ein Eminem-Album sich so sehr nach Eminem an.

Wie aus einem Guss

Wer sich "The Eminem Show" noch mal in Ruhe anhört, merkt schnell, dass Drums, Bässe und Samples wirken, als hätte man sie aus dem selben Stamm geschnitzt und in Form gebracht. Eminem nutzt die Zeit seit der "Marshall Mathers LP", um seine Skills als Produzent intensiv zu verbessern. Das Album von 2000 wird noch hauptsächlich gemeinsam mit den Bass Brothers produziert oder Em verlässt sich auf das geniale Duo Dr. Dre und Mel-Man ("2001"). 2002 führt er bei seiner eigenen Show neben seiner Rolle als Hauptdarsteller auch selbst Regie: Dreimal darf Dre ran, aber sonst ist die Platte fast ausschließlich von Eminem selbst produziert – oft mit Hilfe von Jeff Bass.

Selbst ohne es zu wissen, würde man merken, dass Songs wie "Sing For The Moment", "Say Goodbye Hollywood" und "'Till I Collapse" vom selben Album stammen müssen. Eminem arbeitet für das Gefühl, das er vermitteln will, viel mit der Gitarre und erzeugt damit oft eine schwere Melancholie, die durch moderne Hiphop-Produktionen aufgelockert wird. Er samplet Aerosmith, bezieht sich auf Billy Joel, lässt sich von Led Zeppelin und Jimmy Hendrix inspirieren – er will das "unglaubliche Feeling" (– Eminem) der 70er-Jahre aufgreifen. Wenn man das weiß, hört man es immer wieder aufblitzen.

Marshall exposed: Die Leichen im Keller

Dass Eminem mit selbstzerstörerischer Offenheit seine Vergangenheit und seine Gedanken vor der ganzen Welt ausbreitet, ist 2002 ebenso wenig neu wie der fast alberne Rundumschlag in der ersten Single-Auskopplung. Dieses Mal kassieren Moby (mit der historischen Fehleinschätzung "nobody listens to techno"), Limp Bizkit, Chris Kirkpatrick und die Familie Cheney Zeilen von Shady. "Without Me" ist bis heute einer seiner größten Hits und offenbart den nahezu autistischen Reim- und Flow-Wahnsinn wie nur wenige seiner Songs – Kernstücke der "Eminem Show" sind aber andere.

"I got some skeletons in my closet / And I don't know if no one knows it / So before they throw me inside my coffin and close it / I'ma expose it; I'll take you back to '73 / Before I ever had a multi-platinum-selling CD"

Im introvertierten "Cleanin' Out My Closet" kehrt Eminem sein Innerstes nach außen. Es geht um seine Ex Kim, um seine Mom Debbie, um seinen Vater, den er nie wirklich kennengelernt hat. Dieses Mal ohne eskalative Gewaltfantasien wie in "Kim" oder "Kill You", obgleich der Rapper im Musikvideo im strömenden Regen das Grab für seine Mutter schaufelt.

Seinen kontroversen Humor und extreme Bildsprache hat er auf der Platte beibehalten, aber er zeigt noch mehr als auf der "Marshall Mathers LP", dass er nicht nur das böse Kind ist, das lyrisches Russisch Roulette mit Menschen aus seiner Vergangenheit spielt. Er therapiert sich selbst. Der Moment, als er Kim mit einem Rausschmeißer erwischt hat, das angebliche Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom seiner Mutter, der öffentliche Gegenwind gegen seine Musik. Alles wird hier aufgearbeitet.

"Hailie's Song" ist eine unerwartet zarte und verletzliche Liebeserklärung an seine Tochter. "Say Goodbye Hollywood" dreht sich um die Folgen des Skandals, als Eminem auf der Kerl losging, der grade mit Kim zugange war, und darum, wie der Aufstieg zu Ruhm und Reichtum solche persönlichen Probleme noch komplizierter macht. In "Soldier" wird der gleiche Vorfall noch mit einer seltenen Mischung aus Nachdenklichkeit und blanker Wut thematisiert.

Und so weiter und so fort. Wenn heute der "alte Eminem" glorifiziert wird, dann geht es oft um Reime, um Flow, um Humor und Kontoversen. Was "The Eminem Show" zu seinem besten Album macht, ist aber die Mischung all dieser Komponenten in Kombination mit dem ungefilterten Blick in den Kopf von Marshall Mathers als Eminem – als der Typ, der mit seinem vorhergegangen Album 1,76 Millionen Einheiten innerhalb der ersten Woche verkauft hat. Was denken Rapper? Was Promis generell? Was beschäftigt Marshall Mathers? Fragen, auf die man in der "Eminem Show" Antworten bekommt.

Wahn, Witz & Wut unter Kontrolle

Die "Slim Shady LP" und die "Marshall Mathers LP" fühlen sich streckenweise so an, als könnte die Bombe jeden Moment hochgehen. Die Unterscheidung zwischen Hyperbel und Realität erschließt sich auf Eminems ersten Major-Alben nicht jedem Kritiker direkt – das war auch Anlass für den Song "When The Music Stops" mit D12. Der Schockfaktor multipliziert in der jeweiligen Zeit den Buzz, den Em mit Dres Support generiert.

Es wäre übertrieben, zu sagen, auf Album Nummer drei hätte der Mindstate des Rappers sich normalisiert; er hat ihn jedoch unter Kontrolle bekommen und er erklärt sich. Das bezieht sich nicht nur auf abstruse Fantasien, sondern auch auf die abstrusen lyrischen und technischen Fähigkeit des Rap Gods (dass er sich später mal ohne viel Gegenwind so nennen darf, ist nicht unerheblich von "The Eminem Show" abhängig).

Am detaillierten Beispiel der epischen Rapmachtdemonstration "'Till I Collapse" wird deutlich, wie viel hinter fast jeder einzelnen Line steckt:

Was ich im letzten Abschnitt beschrieben habe, wird in – ich kann es nicht anders formulieren! – geisteskranken Reimstrukturen verpackt, die sich innerhalb von einzelnen Wörtern und Zeilen, zwischen den Lines oder über gesamte Verses erstrecken. Auf den Alben zuvor klingt das alles noch wilder, frecher, raw und mit wenigen Ausnahmen schwerer vermarktbar für die große Popwelt. Das kann man je nach Geschmack durchaus favorisieren. Auf keinem zweiten Album schafft Eminem es jedoch, seine textliche Finesse mit all der authentischen Wut im Herzen und der Stimme in kontrollierte und selbst entworfene Bahnen zu lenken wie hier, ohne sich davon limitieren zu lassen. Später auf "Encore" nimmt der Wahnsinn oft Überhand, die Wut weicht über weite Strecken einer (durchaus genialen) Albernheit und danach nehmen kalkulierte Pophits mit Rihanna und Co immer mehr Überhand. Hier ist alles im Gleichgewicht wie nie mehr danach und auch nicht zuvor in Eminems Karriere.

Die Stan-Perspektive

Ok, also was haben wir? Eine nie dagewesene Reimmaschine, die ihre persönlichen und öffentlichen Probleme auf (meist) eigenen Beats der Welt präsentiert. Kommerzielle Erfolge noch und nöcher. Das macht "The Eminem Show" objektiv betrachtet nur vielleicht zu seinem besten Album. Es gibt nicht wenige Hörer, die die rougheren Werke vorziehen würden.

Ich kann aber nicht objektiv sein. Ich habe es in den anderen Abschnitte versucht, aber es geht nicht. Dieses Album ist unwiderruflich mit meiner Rapsozialisierung verknüpft und damit bin ich nicht allein. Noch bevor Sido zwei Jahre später mit "Maske" kam, brachte Eminem mich dazu, Rap zu hören, zu feiern und zu lieben für all das, was er ist und sein kann: aggressiv, nachdenklich, verrückt, kontrovers, inspirierend, therapierend, beruhigend, aufrüttelnd. Zwei Jahre vorher bei der "Marshall Mathers LP" war ich weder bereit, noch auf der unbewussten Suche nach einer (musikalischen) Identität. Erst "Without Me", dann die folgenden Singles und letztendlich das ganze Album haben mich auf einen Pfad geführt, den ich nur selten verlassen habe.

Ja verdammt, wie so viele andere in unserer Generation war ich ein richtiger Stan. Nicht mit Briefe schreiben und im strömenden Regen samt schwangerer Frau das Auto von einer Brücke ins Wasser jagen. Dafür mit jedem bekackten Poster, das meine Fanboy-Hände in die Finger bekommen konnten und mit jeder CD, die in irgendeinem Regal zu finden war. Dass es einen nicht zu einem guten Rapper macht, wenn man nach 100 Versuchen einmal "Cleanin' Out My Closet" einigermaßen mitrappen kann, verstehe ich auch so langsam.

Wenn ich heute sage, "The Eminem Show" ist sein bestes Album, dann schwingt das alles im Subtext mit. Wenn ich mich heute über die unfassbare Wackness der neuen Alben aufrege, dann ist das nur teils der unfassbaren Wackness der neuen Alben geschuldet. Wäre Eminem damals nicht der herrlich gestörte MC gewesen, der mich zum Rapfan gemacht hat, würde mir sein aktueller Output wohl noch deutlich weiter am Hintern vorbeigehen.

Tut er aber nicht. Der "Eminem Show"-Eminem ist für mich bis heute der Inbegriff von Eminem und Legitimation für den lange Jahre unantastbaren Status. Wenn ich heute Ed Sheeran auf dem neuen Album herumjammern höre, zerbröselt das alte Poster an meiner Kinderzimmertür Stück für Stück für Stück. Deshalb lasse ich's jetzt sein und höre stattdessen sein bestes Album. Herzlich willkommen zur "Eminem Show"!

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