"Könnt ihr uns hören?": Deutschraps Geschichte auf 464 Seiten

Wenn Bonez MC dieser Tage gemeinsam mit RAF Camora Konzerthallen mit über 16.000 Menschen füllt, gilt das einmal mehr als Beweis dafür, dass die Hiphop-Kultur in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Dutzende Gold- und Platinplatten, eigene Fashion- und Spirituosenmarken oder Bonez' massiver Grind bei Instagram zementieren zusätzlich den State of the Art der Szene. Deutschsprachiger Rap diktiert aktuell den Zeitgeist, wie vielleicht noch nie zuvor.

Vor über 30 Jahren waren derartige Größenverhältnisse im Hiphop reines Wunschdenken. Rap, DJing, Breakdancing und Graffiti rollten als Kollektiv aus den USA vermehrt nach Deutschland. Davon ließ sich auch die junge Cora E. inspirieren und begann, erste Graffiti an eine Konzerthalle in ihrer Heimat zu malen.

Genau an dieser Stelle starten der ehemalige Juice-Chefredakteur Davide Bortot und All Good-Mitgründer Jan Wehn in ihrem Buch "Könnt ihr uns hören?" die Zeitreise durch die deutsche Raphistorie.

Die beiden Journalisten haben ein Buch veröffentlicht, das die letzten drei Dekaden des deutschen Rap-Kosmos dokumentiert. Auf 464 Seiten findet von den Pionieren aus der Anfangszeit bis zu den heutigen Superstars eine illustre Heldenreise statt – von den Anfängen in den Jugendzentren bis zu ausverkauften Fußballstadien.

Der Name des Werks ist dabei Programm und zeigt, dass Rapper mit ihren Lyrics den Drang verspüren, auf sich oder gesellschaftliche Themen aufmerksam zu machen: „Könnt ihr uns hören?“ zollt Cora E.s Debütsingle „Könnt ihr mich hör’n“ aus dem Jahr 1993 Tribut.

Rapper erzählen die Geschichte von deutschem Hiphop nach

Dabei hören oder lesen wir nicht Jans und Davides eigene Erfahrungen mit der Hiphop-Kultur. Die beiden lassen die Hauptdarsteller lieber selbst zu Wort kommen. Dafür sprachen sie mit über 100 Zeitzeugen – nämlich Rappern, Journalisten oder Aktivisten, die sich täglich mit Hiphop beschäftigen oder ihren Teil zum Aufschwung der Musikrichtung beigetragen haben – und formten anhand vieler unterschiedlicher Blickwinkel „eine Oral History des deutschen Rap“, so der Untertitel.

Im Buch selbst erinnern sich unter anderem Afrob, die Beginner, Samy Deluxe, Kool Savas, Toni L., Stieber Twins, Dendemann, Cro, Curse, Bonez MC, Max Herre, Marteria, Trettmann, Haiyti, Frauenarzt, RIN, Shindy, Sido, Moses Pelham, Smudo, Summer Cem, Farid Bang, Marcus Staiger oder Visa Vie an den Beginn, Aufstieg und Wandel des deutschsprachigen Raps. 

Auch unser Moderator Rooz blickt im Buch auf verschiedene Blaupausen der History zurück, so zum Beispiel auf das Alleinstellungsmerkmal von Aggro Berlin:

 „Ich glaube, dass die Visualität der wichtigste Punkt an der Sache war. Specter hatte diesen Frankreich-Vorteil. Er ist dort aufgewachsen, weil seine Eltern da beruflich zu tun hatten, und hat alles aufgesogen. Weil es das Internet in der Form noch nicht gab, war er mit dem Fokus auf die Aufmachung und die Charaktere hierzulande der Erste. Specter hat die Künstler und deren Images quasi am Reißbrett erfunden und sich überlegt, welche Zielgruppen er ansprechen will. Davor haben Rapper einfach Musik gemacht und halt mal geschaut, wer das hören könnte. Specter hat es genau andersrum gemacht – im Grunde so, wie es im Pop passiert. Das war der Faktor, der Aggro vom Rest in Berlin unterschieden hat.“ (Seite: 282/283)

In den 52 Kapiteln steckt viel Liebe zum Detail. Eingefleischte Hiphop-Fans werden das beispielsweise an den Namen der einzelnen Abschnitte erkennen, die mit Querverweisen auf bekannte Rap-Zeilen, Wortpielen oder geschichtsträchtigen Einschnitten gespickt sind. Die Kapitelnamen reichen von „Vorsprung durch Technics“ über „Bros“, „Es hat Boom gemacht“, „Könnt ihr Staiger fragen“, „Lieder, geil“ bis hin zu „Komm ins Café, wir müssen rappen“.

Warum Kool Savas und Fettes Brot Beef hatten

Durch viele aussagekräftige Anekdoten zu einzelnen Epochen wird die Entwicklung von deutschem Hiphop und dessen Protagonisten greifbar. So ist Kool Savas in seinen jungen Jahren wohl mal mit seiner Musik bei Fettes Brot vorstellig geworden, dabei aber auf Ablehnung gestoßen. Einige Jahre später bekamen die Brote dann ihr Fett in Songs von Savas weg. André Luth, damaliger Gründer des Plattenlabels Yo Mama und Mentor von Fettes Brot, erinnert sich:

„Kool Savas kennen wir, seit er Co-Rapper von Ono von Walkin‘ Large war. Er ist 1995 in der Live Music Hall mit seinem ersten Solo-Tape zu Doktor Renz gekommen – ausgerechnet dem reinsten Humanisten unter uns, der „Schw*nz“ und „B*tch“ so gar nicht im Reimwörterbuch hat. Savas hat sich da genau den Falschen ausgesucht. Über das Feedback war er sehr unglücklich, glaube ich. (Seite: 259)

Doktor Renz:

„Savas hat mich gefragt, ob er mir mal sein Demo vorspielen kann. Wir haben uns in ein Auto gesetzt, und er hat mir was vorgespielt. Ich weiß noch, dass mir seine Halskette aufgefallen ist. Daran hing ein Bergkristall, in dem das Wort „V*tze“ graviert war. Ich habe noch überlegt, ob man dieses Wort eigentlich mit F oder V schreibt, was mich thematisch schon mal auf das vorbereitet hat, was danach auf mich einprasseln sollte. Für mich war das echt ein kleiner Kulturschock. Ich war mit dieser Art von Sprache komplett überfordert. Ich habe ihm gesagt, dass das nichts für mich ist. Dadurch habe ich die zarte Künstlerseele von Savas wohl nicht gut genug gewürdigt. Vielleicht kam ich damals auch wie ein arroganter Erfolgsrapper rüber, der den aufstrebenden Nachwuchs-MC abkanzelt. Vielleicht bin ich auch einfach nur rot geworden. Ich habe jedenfalls eine ganze Weile gebraucht, um einen adäquaten Umgang damit zu finden. (Seite: 259/260)

Kool Savas:

„Das erinnere ich nicht mehr genau. Renz war jedenfalls etwas abweisend. Ich habe Fettes Brot damals auch nicht abgefeiert, aber ich war immer auf der Suche nach der Möglichkeit, mich zu präsentieren. Natürlich wollte ich von der westdeutschen Rap-Szene respektiert und gemocht werden. Aber die war, wenn wir mal ehrlich sind, mehr oder weniger komplett Anti-Berlin. Götz Gottschalk hat zu mir gesagt: „Damit wirst du niemals erfolgreich.““ (Seite: 260)

Melbeatz [Anm. d. Verf.: frühere Produzentin und Freundin von Kool Savas]:

„Savas hat die Leute alle nur gedisst, weil sie nicht mehr geil waren. Fettes Brot haben komische Musik gemacht, Rene hat komische Musik gemacht. Zu der Zeit waren die nicht mehr geil. Savas hat das immer für Rap gemacht und nicht aus niederen Motiven. Er wollte Rap beschützen.“ (Seite: 261)

Dass diesen Mindstate zur damaligen Zeit nicht nur Kool Savas auf der Agenda hatte, zeigt das Buch von Jan Wehn und Davide Bortot auch anhand einiger anderer Beispiele.

Von "Fremd im eigenend Land" bis zu "Palmen aus Plastik"

Für die Generation der älteren Hiphop-Fans, die den Weg von Torch und Advanced Chemistry schon im Schlaf runterbeten können, bieten die lebendigen Erzählstränge und regionalen Perspektivwechsel nochmal eine ganz neue Sicht auf die Dinge. Und diejenigen, die die Hiphop-Kultur vielleicht erst in den letzten ein bis zwei Jahren durch die musikalische Vielfalt kennengelernt haben, bekommen mit „Könnt ihr uns hören?“ ein fettes Angeberwissen für den Schulhof.

Die stetige Weiterentwicklung von Hiphop ist es dann schließlich auch, die deutschsprachigen Rap einzigartig macht, findet Bonez MC:

„Ich denke, wir haben Grenzen geöffnet und alles wieder ein bisschen lockerer gemacht. Bei den Gangstarap-Konzerten waren lange nur schüchterne Mädels und Typen in Lederjacke, die verkrampft in der Ecke gestanden und das Konzept von Feiern nicht so richtig verstanden haben. Die Rapper haben genau so performt: von rechts nach links latschen, auf den Boden gucken und die Texte runterrattern, wie verschüchterte Jungs aus dem Jugendhaus, die zufällig vor Tausenden Menschen gelandet sind. Das ist doch kein Entertainment! Man muss doch nach einem Konzert nach Hause gehen und sich denken: Das war ein geiler Vibe, da will ich wieder hin. Ich würde sagen, wir haben ein bisschen den Stock aus dem Arsch gezogen und Deutschrap eine gewisse Offenheit gebracht.“ (Seite: 431/432)

Könnt ihr uns hören? Eine Oral History des deutschen Rap“ von Jan Wehn und Davide Bortot ist im Ullstein Verlag erschienen und seit dem 22. Februar erhältlich. Das Buch kostet rund 20 Euro.

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