The Life Of Pablo: Der Versuch zu beschreiben, was gestern Nacht passiert ist

"Wir sind umgeben von Wölfen": Das sind Kanyes letzte Worte auf der neuen Platte The Life Of Pablo. Aber fangen wir von vorne an.

Als ich Ende Januar erfahre, dass Kanye West sein neues Album am 11. Februar im New Yorker Madison Square Garden zum ersten Mal der Weltöffentlichkeit präsentieren wird, bekomme ich als Fan ein irgendwie mulmiges Gefühl.

Was hat er vor? Führt er den mit Yeezus eingeschlagenen und ignoranten Weg konsequent fort? Oder macht er es wie die letzten Male und erfindet sich abermals neu? Fragen, die mich die letzten Tage und Wochen sehr beschäftigt haben. Denn sind wir mal ehrlich: Kein Mensch dieser Welt will seinen Helden fallen sehen.

Dazu kommt Yes eigener Anspruch, vor etwa 20.000 Menschen im Garden – der wohl berühmtesten Konzerthalle Amerikas – und zusätzlich vor rund 20 Millionen weltweit in den Kinos und an den Bildschirmen zuhause zu bestehen. Nicht gerade die leichtesten Voraussetzungen, um sich nach 968 Tagen mit einem neuen Album zurückzumelden. Aber was kümmert das schon einen 38-jährigen Mann namens Kanye Omari West, der schon den ein oder anderen Klassiker auf der Habenseite hat?

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Wie die Show begann, erfährst du auf der nächsten Seite ...

Als ich gestern Abend also pünktlich um 22.15 Uhr deutscher Zeit mit meinen Jungs im Kino sitze, bin ich gespannt. Ach, was sag' ich: Mich zerreißt es innerlich. Deswegen auch keine Popcorn. Keine Nachos. Nur Kanye, meine 1-Liter-Cola und ich. Zum Glück sehen das die meisten anderen Kinobesucher ähnlich. Bloß kein Geraschel oder sonstiger unnötiger Lärm während des als eines der großartigsten Alben aller Zeiten angekündigte T.L.O.P.!


Wenige Minuten später geht es los: Nachdem der Kardashian-Clan inklusive Töchterchen North den MSG in pelzigen Maßanfertigungen des Pariser Modelabels Balmain betritt, schlendert Yeezy aus den Katakomben.

Er lässt sich ein bisschen feiern, läuft anschließend im übergroßen roten Pullover und schwarzer Yeezus-Baseball-Cap in Richtung Soundpult, gestikuliert etwas und gibt ein paar allerletzte Anweisungen. Dazu fordert er die Freunde, Familie, Wegbegleiter, Stars und sonstigen Leute im Publikum auf, Emotionen zu zeigen, wenn sie gleich Zeuge des Albums werden.

Was sich allerdings in der Mitte der Halle – wo ansonsten auch das NBA-Team der New York Knicks auf Punktejagd geht – unter diesen riesigen, dunklen Planen verbirgt, wissen zu diesem Zeitpunkt nur die Wenigsten.

Auf der nächsten Seite: Kanyes soeben veröffentlichter Track 30 Hours und was passierte, nachdem er gestern Abend seinen Laptop aufgeklappt hatte.


Die Spannung steigt, Kanye klappt seinen Laptop auf und drückt Play: Ultra Light Beam erklingt. Wie viele Menschen auf der Welt würden jetzt gerade gefühlt ihr Leben geben, um live vor Ort zu sein? Dort, wo gerade möglicherweise so etwas wie Musikgeschichte geschrieben wird?

Auf der Bühne lüftet sich das bis dahin bedeckte Geheimnis. Hunderte Menschen tauchen in der brandneuen Kanye-Kluft auf: It's Yeezy Season. Was für eine beeindruckende Farbpalette. Hosen, Sweatshirts, Mäntel und Schuhe – verteilt auf zwei unterschiedlich hohe, viereckige Podeste. Das ist die Kanye-eske Darstellung der Genozide in Ruanda 1995.

Die aus Genau stammende Performance-Künstlerin Vanessa Beecroft ist für diese menschliche Rauminszenierung verantwortlich: Tableau vivant nennt das der Experte. Nicht weniger hätte es sein dürfen, damit es dem Künstler Kanye und seiner Vision gerecht wird. Übrigens tummelt sich auch Naomi Campbell unter den meist grimmig dreinblickenden Models.

Über das große Finale der Listening-Session liest du auf der letzten Seite.

Während des Listenings ist der Zeremonienmeister unter anderem umgeben vom GOOD Music Präsidenten Pusha T2 Chainz, Kid Cudi, Big Sean, Young Thug und Vic Mensa. Und – oh mein Gott – was sind das bitte für Songs?! Das ist wieder mal Grenzen sprengend. Mindestens. Was Kanye uns auf diesen zehn Stücken Musik offenbart, ist unglaublich spektakulär. Ob es tatsächlich das beste Album aller Zeiten ist, kann und will ich nach nur einmaligem Hören nicht behaupten. Dazu kommt, dass die Songs noch ungemastert waren. Aber soviel ist sicher: Es ist bzw. wird ein formvollendetes Kunstwerk. 

Die Songs sind kompliziert, oftmals mit einer ganzen Menge Gospel aufgeladen und nur sehr schwer zu begreifen. Sie wandeln zwischen bodenständigem Selbstzweifel, düsterer Filmmusik, merkwürdigen Filmcuts, Offbeat-Flows, Größenwahn und noch so vielem mehr. Chapeau, Kanye. Chapeau.  

Was sein Übriges tut, sind bemerkenswerte Randgeschichten wie beispielsweise die des Ex-Basketballstars Lamar Odom. Zum ersten Mal zeigte der sich nach im Koma endenden Drogenexzessen mit seiner Noch-Ehefrau Khloé Kardashian wieder in der Öffentlichkeit. Ob sich die Familie hier wieder mal nur selbst inszeniert, sei dahingestellt. Schön zu sehen ist es allemal.

Oder betrachten wir Chance the Rapper. Der 22-Jährige hat sich vor zwölf Jahren sein erstes Album gekauft: Kanyes The College Dropout. Heute ist er auf dem ersten Song von The Life Of Pablo vertreten. Auch hier schließt sich einer der Kreise an diesem Abend.

Nach dem uns Kanye einerseits ignorante Zeilen wie “I feel like me and Taylor might still have sex, I made that bitch famous" vor den Latz geknallt hat, aber andererseits wie im Song über seinen Vater zutiefst nachdenklich wird und "Up in the morning miss you bad, sorry I ain't called you back, the same problem my father had" rappt, ist der erste Durchlauf der Platte nach mehr als einer Stunde vorbei. Wow.

Ich will das nochmal. Das, was da gerade passiert ist, bitte einfach nochmal. Und nochmal. Dieser stetige Wandel zwischen Bodenständigkeit und Hybris fasziniert mich – nach wie vor. Dieser charismatische Kanye zieht mich immer wieder in seinen Bann. Und das ist auch gut so.

"Wir sind umgeben von Wölfen" heißt es da im letzten Song Wolves. Darin erzählt Ye die Geschichte seiner Frau und Kinder analog zu der christlichen Geschichte von Maria, Joseph und Jesus. Bezeichnend ist, dass hier nicht der Chef selbst, sondern ein gewisser Frank Ocean die Schlussakkorde mit seiner Stimme und Sätzen wie "The rings all ring out, burn out, cave in"  oder "life is precious, we found out" beglückt.

Der Kreislauf des Lebens in zehn Songs: Das ist das neue Kanye West Album. Wenn es denn dabei bleibt und es nicht auf der Zielgeraden nochmals eine abgeänderte Tracklist und sonstiges Auf-Den-Kopf-Gestelle gibt. 

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