Start Snitching
Es muss 1991 gewesen sein, als ich freudestrahlend aus der Schule mit einem nagelneuen Panini Bilder Sammelheft inklusive komplett getauschter Bayern München Fußballmannschaft zu Hause auftauchte. Glücklich wie ich war, ließ ich es in meiner Nichtsahnung und kindlicher Naivität auf dem Esstisch in der Küche liegen und ging, ganz braves Kind-like, in mein Bett. Niemand konnte ahnen, dass ich mir nur 12 Stunden zuvor, in einem unbeobachteten Moment, dieses Sammelheft von einem Mitschüler "geliehen" hatte. Am nächsten Morgen erwartete mich meine Mutter und stellte mich zur Rede. Natürlich hatte ich übersehen, dass dieser Streber seinen Namen auf die erste Seite geschrieben hatte. Wer bitte schreibt denn seinen Namen auf die erste Seite? Meine Mum erklärte mir jedenfalls, dass ich unverzüglich das Heft zurück bringen müsste und sie auch schon bei der Familie des Jungen angerufen hatte, um Bescheid zu geben, dass wir das vermisste Heft beherbergten. Eine Welt brach in diesem Moment über mir zusammen. Ich konnte es nicht glauben und musste im unschuldigen Alter von sechs Jahren eine Erfahrung machen, welche mich noch viele schlaflose oder schweißgebadet aufwachende Nächte kosten sollte: Meine Mutter hatte gesnitchet.Die Ursprünge des Snitchens oder auch des Verratens gehen auf den berühmtesten und ältesten Verräter der Welt, namentlich Judas Ischariot, zurück. Dieser erscheint im Neuen Testament als einer der zwölf Apostel. Allen vier Evangelien zufolge war er es, der in Jerusalem Jesus Festnahme im Garten Getsemane durch die im Sanhedrin führenden Gruppen ermöglicht hatte. In Folge dessen wurde Jesus an die Römer ausgeliefert und gekreuzigt. Er galt den Urchristen daher als "der, der ihn [Jesus] dann verriet". Seltsam, dass Fifty noch keinen Disstrack recordet hat.Doch Verräter in den eigenen Reihen waren nicht nur die Probleme von Propheten, Gläubigen und Martin Scorsese. Ein Wort, welches Sirenen im Kopf jedes anständigen Polizisten klingeln lässt wie ein Weißer in den Blocks nördlich der 125sten ist ein sizilianisch geprägter Begriff: Omertà. Mit diesem Begriff bezeichnen Mafiosi oder Anhänger ähnlich krimineller Organisationen die firmeninterne Schweigepflicht. Jedem Mitglied einer solchen "Gesellschaft" ist es demnach verboten, gegenüber gesetzestreuen Organisationen wie der Polizei Aussagen über die Aktivitäten oder Taten der "Familie" zu machen. Bekanntlich endet ein Bruch dieses ungeschriebenen Gesetzes oft bei den Fischen, wahlweise wird ein Pentiti (übersetzt: der Geständige), der Mafiabegriff für die "Talker", aber auch erschossen, zersägt, erwürgt oder gehängt. Einer der ersten Pentiti war Joe Valachi, welcher die Existenz der Mafia während einer Anhörung vor dem amerikanischen Kongress im Oktober 1963, zugab. Er starb acht Jahre später an einem "Herzinfarkt". Im Gefängnis. Natürlich wäre mir damals nie die Idee gekommen, den Regeln der Omertà zu folgen und Verräter in den Reihen der Familie eine Urlaubsreise ins Reich von König Neptun zu spendieren. Ich war ja erst sechs. Man ist halt noch auf Mütter angewiesen. Außerdem behaupten Eltern grundsätzlich, dass jede Aktion, egal wie gemein oder böse sie in den unendlich traurigen Augen eines sich in diesem Moment betrogen fühlenden Kindes auch erscheinen mag, immer einem höheren, nämlich erziehungstechnisch anspruchsvollen und daher von Kindern nicht nachvollziehbaren, Zweck dient.Ähnlich verhält es sich in den Reihen der Hiphop-Community in den Ghettos der Vereinigten Staaten von Amerika. Koksdealer die sich in Stop Snitching Shirts hüllen, repräsentieren zwar eine politische Gesinnung, welche aber in keinster, wenn auch oft und gerne verglichener, Weise mit den Regeln der Mafia in Bezug steht. Im Hiphop Kontext untersagt das Stop Snitching Movement jegliche Auskunftgabe an die Polizei oder sonstige Hütern des Gesetzes, dies können ebenso Marineoffiziere wie Aushilfssheriffs der berittenen Garde von Texas sein. Rapper Cam'ron (a.k.a. Killa Cam) spitzte in einem Videointerview mit Anderson Cooperdie in den CBS News die Situation zu. Er würde zwar mit der Polizei reden, jedoch nur "Hallo" oder "Wie geht's?". Auf die Frage, ob er der Polizei Auskünfte geben würde, wenn ein Serienkiller Haus an Haus mit ihm wohnen würde, antwortete Cam'ron, dass er höchstens wegziehen würde. Ignoranz XXL. Zwar widerrief Cam'ron einige Tage später den Kommentar bezüglich des Serienkillers, eine Grundsatzdiskussion bleibt dennoch. In den Reihen der Mafia galt als Verrat, wer ein Mitglied der eigenen Familie an die Polizei oder deine Mutter verriet. Im Hiphop, so scheint es, gilt als Verräter wer irgendjemandem irgendetwas über irgendwelche Gesetzesbrüche erzählt. Außerdem wird der Snitch mittlerweile in vielen Disstracks als direkte Beleidigung benutzt. Cam'ron beschuldigt zum Beispiel, in seinem Disstrack Curtis, 50 Cent des Snitchings. Fifty soll demnach ein Informant der Polizei sein und gegen alles und jeden aussagen. Snitching als Diss. Wer will schon ein Snitch sein, wenn bekannte Rapper dies als Diss benutzen? Diesem Umstand verdankt die Polizei auch möglicherweise die Nicht-Aufklärung von Morden, wie denen an Tupac und Biggie. Traurigerweise werden so die Täter beschützt und bekommen von der Community einen theoretischen Freibrief für weitere Verbechen. Die Ursprünge des Stop Snitching Movements zurückzuverfolgen ist, als würde man versuchen Muktada al-Sadr zu einem friedlichen Besuch bei McDonalds überreden zu wollen. Vorsichtig datiert auf irgendwann 1999 in Boston, wurden dort T-Shirts mit den "Stop Snitching" Aufdrucken als Promotool für ein lokales Mixtape verkauft. Stop Snitchin' Vol. 1, so der Name des Mixtapes, war der erste und letzte Release des Bostoner Streetrappers T.A.N.G.G. (Telling Ass Ni##as Gotta Go). Einen Schritt weiter in Richtung nationaler Bekanntheit machte das Movement, als es 2004 von Rodney Thomas für den DVD Release zu Stop Snitching! aufgegriffen wurde. Ironischerweise könnte man behaupten, dass Rodney Thomas das Movement nicht ganz uneigennützig popularisieren wollte, ging er doch 2006 für 15 Jahre wegen bewaffneten Raubüberfällen ins Gefängnis. Ob da jemand gesnitcht hatte?Ich jedenfalls beschloss meiner Mum zu vergeben und machte mir in den darauffolgenden Jahren meine Gedanken. Als heranwachsender Mensch überdenkt man viele Dinge und Entscheidungen in seinem Leben und sieht viele, in der Vergangenheit getroffene, Entscheidungen unter einem ganz anderen Gesichtspunkt. Außerdem hatte meine Mutter sich an die Glasscherben in ihrem Frühstücksmüsli gewöhnt... Eine ganz andere Art der Öffentlichkeitsarbeit leisten diverse staatliche Instanzen sowie Firmen und Gesellschaften. Als Antwort auf Rodney Thomas Kampagne kreierte das Baltimore Police Department ihr eigenes Movement. "Keep Talkin'" war geboren, in welchem kostenlose T-Shirts sowie DVDs verteilt wurden, ganz im Stil des zu bekämpfenden Mediums. In Pittsburgh wurde ein junger Mann im Gerichtssaal verhaftet, weil er ein Stop Snitching Shirt getragen hatte, mit der Absicht, die Zeugen ruhig zu stellen. Bostons Bürgermeister Thomas Menino ging sogar soweit, dass er Stop Snitching T-Shirts in lokalen Läden konfiszieren ließ. Der Sender Fox News startete ebenfalls eine Kampagne mit dem Namen Step Up and Speak Out. Belustigend für Beobachter des Movements waren vor allem zahlreiche Parodien auf die T-Shirts wie Stop Menino, Start Snitching, STOP Stop Snitching und Stop Stop Stop Snitching.Nach dieser Kommerzialisierung des, eigentlich zum Selbstschutz gedachten, Movements fällt dem aufmerksamen Beobachter eine Kleinigkeit auf, denn es ist ein definitiv zweischneidiges Schwert, mit dem die Gangster spielen. Vergleicht man einmal die Kriminalitätsrate mit den Veröffentlichungen von Stop Snitching Tracks und dem Verkauf eben solcher, so fällt auf, dass wir eine, statistisch gesehen, gegenläufige Graphenentwicklung haben. Das bedeutet, dass je höher die Kriminalität steigt, umso weniger Bewegung der Vertreter des Stop Snitching Movements. Ein logischer Aspekt, wollen doch zum Beispiel die bedeutenden Persönlichkeiten, wie zum Beispiel die Rapper, eine Gewährleistung für die Sicherheit ihrer Familie und ihres Besitzes und diese leistet oft die Polizei.Ich für meinen Teil besitze mittlerweile das erwachsene Verständnis für die Handlung meiner Mutter. Aus ihrer fürsorglichen Sicht heraus wollte sie mich einfach vor Schlimmerem bewahren, ist doch auf lange Sicht vorstellbar, dass dies nicht der letzte "Ausleihversuch" meinerseits wäre. Sie stellte auf diese Weise nur sicher, dass ich von diesem Moment an wusste, das man nicht stiehlt. Effektiver geht es nicht. Bis heute habe ich nicht mehr geklaut. Somit ist meine Mum vielleicht doch kein Snitch. Auf jeden Fall ist sie ein guter Mensch. Daher mein Rat an alle, die nicht in der Hood wohnen und um ihr Leben fürchten müssen: Start Snitching. An alle die nicht Kinder des Paten sind: Start Snitching. Denn seid ihr selbst erst Opfer und niemand hilft euch, werdet Ihr nie wieder ein Stop Snitching T-Shirt tragen. Ihr tragt doch auch keine Start floating N'Orleans, again Shirts, oder?P.S.: Mum, I luv ya.

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