Dynamite Deluxe vs Fler
Manche meinen, seit der Gangster Rap Revolution wäre alles anders. Neue Deutschrap Fans hören den "alten" nicht, alte Fans halten nichts vom neuen Trend. Manche sehen schwarz für Rap, andere meinen wir fangen gerade erst an. Besteht Rap heute aus zwei Teilen die kaum noch miteinander zu tun haben? Wo sind die Unterschiede? Werden sie vielleicht immer kleiner? Wer ist eigentlich besser? Und worin? Am Ende muss das ja immer jeder selber wissen, wir wollen aber zumindest ein paar Anregungen dazu geben und haben diese Fragen zum Anlass genommen, die zwei größten Releases des beginnenden Jahres unter die Lupe zu nehmen!

Deutscher Hiphop 2k8: Zwei Künstlermodelle im Vergleich


Man stelle sich vor: Hiphop ist ein riesiger Kosmos mit unzähligen Sonnensystemen, Planeten und Sternen. Als Erdenbürger schaut man also in einer klaren Nacht zum Himmel auf und sieht viele verschiedene Lichter in friedlichem Einklang nebeneinander scheinen. Jedes Individuum – jeder Künstler – hat sich seinen Platz am Himmelszelt erkämpft, der eine scheint heller, der andere dunkler. Dieser Tage überschatten allerdings zwei im Universum sehr weit von einander entfernte Punkte den sonst so monotonen Schein der Sterne. Es sind wahrlich Welten zwischen ihnen, der eine befindet sich in der Umlaufbahn des Gangster-Raps, der andere schwebt in einem Raum-Zeit-Gefüge, das ständig zwischen verhängnisvoller Kiffer-Vergangenheit und New-Style-Future pendelt. Die Rede ist natürlich von Fler und Dynamite Deluxe , die dieser Tage die Erdbevölkerung spalten wie kaum zuvor. Und trotz aller Kontroverse ein perfektes Gleichgewicht im Hiphop-Universum herstellen.
Was könnte Hiphop Deutschland nach all den negativen Schlagzeilen der letzten Wochen und Monaten besser bekommen, als zwei vollkommen unterschiedliche Alben von zwei Künstlern, bei denen die musikalischen Differenzen wohl kaum größer sein könnten? Auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick gibt es unter Hiphop-philosophischen Gesichtspunkten gleich mehrere Vergleichsmöglichkeiten, die es sich lohnt mit dem Sternenmikroskop genauer zu betrachten. Es sind nahezu wissenschaftliche Fragen die sich daraus ergeben und jeder Hiphop Fan wird sie für sich selbst beantworten müssen.

Frage 1: Was bedeutet Identität im deutschen Hiphop?

Zugehörigkeitsgefühl ist unumstritten schon immer ein äußerst wichtiges Thema in der Geschichte des deutschen Hiphops gewesen. Im Grunde fing alles mit der Frage nach Identität an. 1992 veröffentlichte eine bis dato relativ unbekannte Crew namens Advanced Chemistry ihre erste Single. Fremd im eigenen Land sorgte blitzartig für eine breitere Wahrnehmung der Hip-Hop-Kultur außerhalb der noch überschaubaren Szene. Kein Zufall also, dass Fler sein nunmehr drittes Album nach den Pionieren des deutschen Raps benannt hat. Denn schon damals ging es darum, einen festen Platz in der Gesellschaft zu finden im Einwanderungsland Deutschland, das sich bis heute krampfhaft gegen dieses Image wehrt. Fler zufolge ist dies nur möglich, wenn auch die Deutschen endlich wieder anfangen, Flagge zu zeigen. Nationalstolz hat für ihn mehr als alles andere mit einer Identifikationsbildung zu tun. Dass er dabei in der Vergangenheit mehrmals schmerzlich erfahren musste, dass man in
 einem, durch zwei selbst verursachte Weltkriege tief im Inneren erschütterten Land wie Deutschland, mit Sätzen wie „Schwarz, rot, gold, hart und stolz“ oder „am xx.xx. wird zurückgeschossen“ kräftig auf die Nase fallen kann, ist ihm wohl heute bewusster denn je. Hört man sich nämlich das neue Album an, sucht man vergebens nach so eindeutigen Nazi-Anspielungen wie das noch z.B. bei seinem ersten Album „Neue deutsche Welle“ der Fall war. Was Fler lediglich immer wieder zum Ausdruck bringt ist, dass man sich nicht dafür schämen sollte, Deutscher zu sein. Genauso wenig wie sich ein Türke dafür schämt Türke zu sein oder ein Araber seine Herkunft verleugnet. Daher lautet auch sein Rat: Macht es den Ausländern in Deutschland nach, seit stolz darauf wer ihr seid und wo ihr herkommt.
Dynamite Deluxe , ins besondere der Crewhead Samy Deluxe, definiert Identität hingegen völlig anders. Für ihn ist die fehlende Eingliederung von Ausländern bzw. Deutschen mit Migrationshintergrund auf die fehlende Toleranz in der gesamtdeutschen Bevölkerung zurück zu führen. Seit jeher ist Sam auf der Suche nach Identifikation, nach einem festen Platz in der deutschen Gesellschaft. Bereits das Erstlingswerk von Dynamit Deluxe, das heute als Klassiker umjubelte Deluxe Soundsystem , setzte sich neben Kifferhymnen und Battlebrettern auch kritisch mit diesem Thema auseinander. Auf dem Titeltrack Deluxe Soundsystem ist beispielsweise zu hören: "[...]mit dem Mic in der Hand/ fremd im eigenen Land". In den kommenden Jahren soll das Thema Integration eine noch größere Rolle beim Wickeda MC spielen. Den vorzeitigen Höhepunkt erreicht er mit dem Track Es ist wahr , der auf seinem zweiten Solo-Album Verdammtnochma zu hören ist. Hier heißt es in der Hook:
 "Es ist wahr! Ich mag dieses Land nicht/ Bitte vergesst nicht, dass ich dies' hier für euch mach/ Nur für euch bleib ich in Deutschland/ Ohne Rap, wär ich hier lange schon weg!". Eine eindeutige Botschaft. Und auch 2008 schießt Sam auf dem Dynamite Deluxe Reunion Album TNT gegen die Missstände die er täglich miterlebt: "Ich seh immer noch die selben scheiß Blicke auf der Straße/ fühl' mich hier nicht wohl wie Dicke auf der Waage". Im Gegensatz zu Fler ist Sam also nicht darauf bedacht, sich selbst einer maroden Gesellschaft zu fügen, sondern versucht sich durch Abgrenzung eine eigene Identität zu verschaffen. Frage 2: Was pusht die Plattenverkäufe: Realness oder strategisches Marketing?

Befänden wir uns am Ende des letzten Jahrtausends, wäre das Wort Marketing in Zusammenhang mit Tonträgern aus dem deutschen Hiphop-Bereich wohl noch ein recht unbeschriebenes Blatt. In den glorreichen letzten Jahren der 90er, verkaufte sich jedes in das Genre Rap eingeordnete musikalische Produkt ohne außergewöhnlichen Marketingaufwand. Gerade die Ware aus der Hansestadt Hamburg war Garant für Unterhaltung, Witz und Battlekost auf höchstem Niveau. Als Dynamite Deluxe im Millenniumsjahr ihren ersten Longplayer veröffentlichten, verkauften sie aus dem Stand heraus über 100.000 Platten. Eine Zahl, für die heutzutage ein Bushido Werbebudgets für riesige Großplakate an Berliner Bahnhöfen aufwenden- oder Interviews für die Bravo geben muss. Oder für die sich ein Fler mehr oder weniger freiwillig ein Nazi-Image aufdrücken lässt. Promo ist eben Promo. Egal ob positiv oder negativ.
Sind wir also in einem Zeitalter angekommen, in dem es nicht mehr um den klassischen „Keep it real“-Gedanken geht sondern nur noch darum, wer mit noch größeren Tabubrüchen schocken kann und die eiskaltesten PR-Strategien verfolgt? Aktuelle Zahlen zu den Plattenverkäufen sprechen eine andere Sprache. Schaut man sich nämlich einmal die Chartplatzierungen aus den Releasewochen an, so stellt man mit Erstaunen fest, dass Dynamite Deluxe mit TNT tatsächlich auf der 5. Position in die Hitliste eingestiegen ist, Fler hingegen „nur“ auf der Sieben (auch wenn Dynamite Deluxe dafür in der folgenden Woche noch stärker als Fler abfallen sollten). Flers Gangster-Kollege Massiv, der übrigens auch auf Flers neuem Album mit unfassbar rohen 16 Bars ( Clubbanger ) vertreten ist, stieg deutlich abgeschlagen und ebenfalls hinter den Jungs von Deluxe mit Ein Mann ein Wort auf Platz 18 ein.

Wie viel Bedeutung man diesem überraschenden, gegen den allgemeinen Trend sprechenden Ergebnis beimessen kann, bleibt allerdings fraglich. Obwohl erste selbsternannte Hiphop-Insider von einer historischen Trendwende sprechen, ja gar deutschen Gangsterrap als überholt bezeichnen, bleibt dies voraussichtlich nicht mehr als ein stummer Schrei nach den "guten alten Zeiten". Denn eins darf man nicht vergessen: Dynamite Deluxe ist eine feste Marke in der deutschen Hiphop Szene, ebenso wie Samy Deluxe . Dass TNT also auf der Vier eingestiegen ist, hat hauptsächlich damit zu tun, dass viele alte Heads sich mit dem Kauf der LP den alten Hamburg-Flavor zurück ins Wohnzimmer holen wollten. Dass TNT aber weiter von Deluxe Soundsystem entfernt ist, als Altkanzler Helmut Schmidt vom Eintritt in eine Nichtraucherinitiative, hat, wie man unzähligen Foren bereits entnehmen konnte, viele Hörer bis dato enttäuscht.

Fler hingegen bleibt straight. Er setzt auch mit Fremd im eigenen Land wieder auf Straßenpoesie, verpackt in kugelsichere Westen und düstere Beatteppiche. Auf dem Cover ist er mit finsterem Blick und schwarzem Hoodie zu sehen, er transportiert, wie schon bei den letzten beiden Alben, die typische Berliner Gangsterattitüde. Dabei kann er sich weiterhin darauf verlassen, dass Ghetto-Kids von Berlin Wedding bis Köln Kalk seine Musik kaufen. Dass in seinem Fanpool auch rechtes Gedankengut schwimmt, scheint ihn dabei wenig zu stören. Viel wichtiger ist wohl die Tatsache, dass seine Fanbase noch relativ jung ist, also voraussichtlich auch in Zukunft den Marketingaufwand für kommende Alben locker decken kann.

Frage 3: Kann man Fremd im eigenen Land mit TNT vergleichen?


Obwohl sich beide Alben inhaltlich stark von einander unterscheiden, gibt es durchaus Bewertungskriterien, die einen direkten Vergleich möglich machen. Das wohl wichtigste Kriterium ist dabei der Flow der beiden Rapper. Ähnlich wie bei Labelkollege [prod]sido[/prod], ist auch bei Fler erneut eine deutliche Verbesserung in Sachen Reimkunst erkennbar. So finden sich auf Fremd im eigenen Land einige technisch anspruchsvolle Lieder, wie z.B. Fler vs. Frank White , ein Track in dem Fler seine beiden Alter-Egos gegeneinander antreten lässt oder das metaphernreiche Ghettodrama , bei dem der Aggro -Rapper zeigt, dass auch er Kettenreime schreiben kann. Insgesamt kann man auf jeden Fall von einer enormen Steigerung der Fähigkeiten im Gegensatz zum Vorgänger-Album Der Trendsetter sprechen.

In etwa umgekehrt verhält sich das bei TNT . Samy Delux e an dieser Stelle zu unterstellen, dass er schlecht rappt, wäre natürlich pure Blasphemie, den Erwartungen an seine außergewöhnlichen Reimkünste kann er auf der neuen Dynamite Deluxe LP dennoch nicht ganz gerecht werden. Nur stellenweise blitzt das wahre Genie des einst erfolgreichsten deutschen Rappers auf, ein gutes Beispiel dafür ist der Track Newcomer des Jahres , auf dem Sam eine Punchline an die andere reiht und so nahtlos an alte Deluxe-Tage anknüpfen kann. Auch Weiter strotzt vor flüssigen Reimen und fegt auf einem mit elektronischen Samples energiegeladenen Beat durch das Gehör des Rapfans. Auch wenn es allem Anschein nach nicht Sams Ziel war, seinen Flow noch ein Level weiter zu pushen, muss man sich am Ende doch eingestehen, dass TNT nicht durchgehend sauber gerappt ist.

Dafür aber abwechslungsreich. Und das ist auch der größte Pluspunkt der Platte. Es ist nämlich eine wahre Freude, wie es das Dynamite Deluxe Trio schafft, so viele verschiedene Facetten der elektronischen Musik mit einander sinnvoll zu verknüpfen. Vom entspannten und ironisch-witzigen Reggae-Brett Mein Problem (Take It Easy) bis hin zum rauen Oldschooler Boombox als Ode an die vier Bestandteile von Hiphop, befindet sich alles auf dieser Platte, was sich der stiloffene Raphörer wünschen kann.
Fremd im eigenen Land kann unter diesem Gesichtspunkt kaum Bonuspunkte verbuchen. Zwar sind Fler s Inhalte vielfältiger und vor allem persönlicher ( Warum bist du so? ; Mein Mädchen ) geworden, musikalisch bewegt er sich wie bereits angedeutet aber stets in düsteren Gefilden. Verantwortlich dafür zeichnet sich vor allem wieder DJ Desue , der 90 Prozent der Platte produziert hat. Einzige Ausnahme: Die mit einer Akkustikgitarre instrumentalisierte zweite Single Warum bist du so? , für mich das Highlight der Platte.

Das innovativere Album hat also mit Sicherheit Dynamite Deluxe mit einer perfekten Stilvielfalt vorgelegt. Doch auch Fler kann im Großen und Ganzen einen beachtlichen Erfolg verbuchen, konnte er sich doch technisch erheblich steigern. Fremd im eigenen Land klingt außerdem wie aus einem Guss. Vielleicht ist gerade dieser ungewöhnliche Vergleich für den einen oder anderen Rapfan Grund genug, sich über die eigenen Scheuklappen hinweg zu setzen. Frage 4: Ist Fler mehr Hiphop als Dynamite Deluxe?

Zum Abschluss also die Gretchenfrage: Ist Fler tiefer in der Hiphop Szene verwurzelt als die drei alt eingesessenen Herren aus Hamburg City? Dazu muss man zuerst den Begriff "Hiphop" genauer unter die Lupe nehmen. Obwohl die 4-Elemente-Theorie der erfolgreichsten Jugendbewegung der Erde im Jahre 2k8 überholter denn je scheint, setzt sie sich noch immer aus den Bereichen Graffiti, Breakdance, DJing und Rap zusammen. Eigentlich traurig, dass heute fast ausschließlich das Rap-Element im medialen Fokus steht, haben doch viele Künstler erst durch eines der anderen Elemente zu ihrer jetzigen Karriere gefunden.

So auch Patrick Losensky. Als westberliner Ghetto-Kid wächst der heutige Rapper ohne seinen Vater und mitten im sozialen Brennpunkt auf. Nachdem er Schwierigkeiten in der Schule hat und wegen Angstzuständen kurze Zeit in der Psychiatrie verbringen muss, fängt er eine Lehre als Maler und Lackierer an, die er jedoch schon bald darauf abbricht. Den Sprühdosen und Pinseln bleibt er in anderer Form treu. Fortan macht er sich unter dem Pseudonym "Fler" einen Namen als Graffiti-Writer in den Straßen Berlins. Aufgrund seines künstlerischen Talentes und seiner zahlreichen Pieces erarbeitet er sich in der Szene bald einen respektablen Ruf als Sprüher. Parallel interessiert sich Fler auch für ein anderes Element des Hiphops: den Rap. Als 20-jähriger holt ihn sein Sandkastenfreund Bushido zum neu durchgestarteten Aggro -Label. Zusammen mit A.I.D.S., auch bekannt als sido und B-Tight , machen die, von einem gewissen Writer namens Specter bunt zusammengewürfelten Charaktere fortan die Bühnen der Nation unsicher. 2005 gelingt dann dem Solo-Künstler Fler der große Durchbruch mit seinem kontroversen Erstlingswerk N eue Deutsche Welle . Der Rest ist Geschichte.

Will man den Werdegang von Samy Deluxe beschreiben, landet man automatisch bei Dynamite Deluxe. Im Gegensatz zu Fler springt Sam nämlich gleich auf den Rap-Zug auf. Zusammen mit seinem Kumpel Tropf und DJ Dynamite nimmt er im Jahre 1997 ein erstes Demo namens Deluxe Stylee auf, das sich vor allem auf Platte und Tape in Hamburg City in Windeseile verbreitet. Gierig nach Fame und Competition, droppt das Trio im Jahr darauf den heutigen Klassiker Pures Gift und bereitet so den Weg für Dynamite Deluxe auf LP-Länge. Deluxe Soundsystem beerdigt die Hiphop-Nation im Jahre 2000 und räumt neben Platin auch einen Echo in der Kategorie "Hiphop/R’n’B National" ab. Samy spuckt die Battle-Reime par Excellence, Tropf und Dynamite kümmern sich um angemessenen Sound. Heute kann man mit gutem Gewissen sagen, dass Deluxe Soundsystem eines der geradlinigsten Rap-Alben in der deutschen Hiphop-Geschichte ist.

Die Entscheidung, wer nun also den Hiphop-Lifesytle mehr lebt, ist nicht gerade einfach zu treffen. Dynamite Deluxe haben zwar eine tiefere History und werden von den älteren Hörern automatisch stärker mit Hiphop in Verbindung gebracht, Fler hingegen ist durch seine Writer-Vergangenheit der Elemente-Theorie stärker verbunden. Ihm den Zutritt zur Szene zu verweigern – wie es viele Hater da draußen wohl gerne täten – ist also gar nicht möglich. Denn er hat den Fuß schon längst in der Türe.

Am Ende muss jeder für sich entscheiden, was Hiphop bedeutet und mit welchen Künstlern der Identifikationsfaktor am größten ist. Was diese Gegenüberstellung lediglich beweisen soll: Das Hiphop Universum ist groß genug für sie alle. Und nur durch so unterschiedliche musikalische Visionen wie die hier erläuterten, ist der Begriff Hiphop definierbar. Also schaut mal bei Gelegenheit in einer klaren Nacht auf zum Himmel. Es gibt viel zu entdecken.

Artist

Groove Attack by Hiphop.de