Stuttgart, Polizeigewalt & Rassismus: Was Seehofer macht, ist ein Angriff auf Meinungs- & Pressefreiheit

In der taz erscheint eine Kolumne, in Stuttgart gibt es Randale und Horst Seehofer bringt beides miteinander in Verbindung. Der Innenminister will tatsächlich sogar Strafanzeige gegen Autor*in Hengameh Yaghoobifarah erstatten. Das ist nicht nur ein Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit, sondern auch Diskursverschiebung und Täter*innen-Opfer-Umkehr vom Allerfeinsten.

First things first: Volle Solidarität mit Hengameh Yaghoobifarah und Horst Seehofer muss endlich zurücktreten! Wenn wir schon dabei sind, sollte er am besten gleich auch noch für seine unzähligen diskriminierenden Aussagen zur Rechenschaft gezogen werden. Hetzer wie er tragen einen Teil der Verantwortung für NSU und rechte Terror-Anschläge wie in Halle oder Hanau. That being sa(i)d: Kommen wir zum eigentlichen Thema.

Stuttgarter Randale, Formen der Gewalt & Reaktionen darauf

Was war da am Wochenende los? Offenbar wurde in Stuttgart am Samstagabend eine Gruppe Jugendlicher von der Polizei kontrolliert. Die spricht in ihrer Pressemitteilung von Verdacht auf Drogendeals. Anderswo ist von unverhältnismäßiger Polizeigewalt die Rede, die wieder einmal eskaliert ist.

Es steht wohl fest, dass es zu Pfefferspray- und Schlagstock-Einsätzen gekommen sein soll. Im Anschluss daran sind dann anscheinend mehrere Gruppen von Menschen durch die Stuttgarter Innenstadt gezogen und haben randaliert. Einige Glasscheiben von Geschäften und Polizeiautos sollen dabei zu Bruch gegangen sein, angeblich kam es sogar zu einer Art Plünderung.

Reflexartig schreien die üblichen Verdächtigen in den deutschsprachigen Zeitungen sofort nach der vollen Härte des Gesetzes – selbst die angeblich Linken der bürgerlichen Mitte. Da wird ein gesetzesfreier Raum herbeifantasiert, plötzlich soll es schlimme Gewalt von diesem Ausmaß noch nie in Stuttgart gegeben haben.

Eskalation der Sprache: Wer das behauptet, muss ein extrem schlechtes Gedächtnis haben und beweist ein Gewaltverständnis, das Glasscheiben und Autos mehr Wert beimisst als Menschen.

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Nur damit das nicht in Vergessenheit gerät: Es war die Stuttgarter Polizei, die bei den Stuttgart 21-Protesten einem Menschen per Wasserwerfer das Augenlicht genommen hat.

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Um das nochmal ganz deutlich zu betonen: Dieser Mensch kann jetzt nicht mehr sehen – und das ist das Ergebnis von unverhältnismäßiger Polizeigewalt.

Diese staatlich verordnete Gewalt gegen einen Menschen in Stuttgart wird in der öffentlichen Gewalt-Debatte offenbar als weniger schlimm eingestuft als ein paar entglaste Geschäfte.

Die Frage ist und bleibt, um welche Gewalt es geht und von wem sie ausgeht beziehungsweise wer darunter leidet. So etwas wie Samstagnacht in Stuttgart passiert nie im luftleeren Raum, sondern muss immer im Kontext betrachtet werden. Wenn sich Gewalt entlädt, liegt das aber in den seltensten Fällen an einer Kolumne oder Protesten an sich.

Stuttgart: Wir sehen genau, bei welcher Gewalt ihr schreit - Lower Class Magazine

Es ist wieder einmal so weit. Deutschland hat eine „Gewalt"-Debatte. Derlei Gewaltdebatten entzünden sich stets an der Gewalt von Marginalisierten, an der Gewalt von „unten" - und ganz besonders, wenn man meint „Fremde" unter den „Gewalttätern" ausmachen zu können.

Nein, nicht BLM ist das Problem, sondern Polizei & Rassismus

Die Diskussion danach: Wer jetzt behauptet, dass BLM und die endlich zaghaft stattfindende gesellschaftliche Debatte rund um Polizei, Rassismus und Gewalt schuld an der Randale in Stuttgart wären, hat nichts verstanden. Was sich hier Bahn bricht, ist nicht durch die Black Lives Matter-Proteste entstanden, sondern viel eher durch jahrzehntelange Willkür, Diskriminierung, Polizeigewalt, Racial Profiling und systematischen Rassismus.

Reden wir über Gewalt: Vielleicht manifestieren sich solche Reaktionen auf die alltägliche Gewalt dieses Systems, weil sich Menschen nicht mehr anders zu helfen wissen. Als hilflose Reaktion auf die Gewalt, die von allen ausgeblendet wird, aber der Standard ist. Wir verschließen nur die Augen davor, aber unser System würde ohne Gewalt und Ausbeutung einfach nicht funktionieren.

Uns geht es nur so gut, weil es so vielen anderen Menschen auf der ganzen Welt so schlecht geht. Auch das spielt eine Rolle im aktuellen gesellschaftlichen Klima, auch darum geht es bei den weltweiten Black Lives Matter-Demos: Um die systemimmanente, strukturelle Gewalt dieses kolonialistischen und zutiefst rassistischen, kapitalistischen Systems.

Darüber sollten wir reden, darüber müssen wir reden – und nicht über ein paar kaputte Schaufenster oder die arme Polizei, die angeblich vor schlimmen Kolumnen bewahrt werden müsste.

Denn es ist doch eindeutig: Die Polizei ist keine schutzbedürftige Minderheit, sondern ein Haufen bewaffneter Menschen, der Nazis sowie andere Rechte anzieht und unterstützt.

Auch in Deutschland tötet die Polizei immer wieder Unschuldige

In den USA war der Mord an George Floyd der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Seit über einer Woche demonstrieren die Menschen in jeder größeren US-Stadt gegen Polizeigewalt und Rassimus. Zu viele meist schwarze Menschen wurden von den Cops getötet. Auch in Deutschland formieren sich Proteste.

Diskursverschiebung, Derailing & Täter*innen-Opfer-Umkehr

Die Polizei, ihre Gewerkschaft, der rechte Innenminister und seine genauso rechte Partei CSU wollen aber lieber nicht so gerne über Rassismus und die Probleme mit der Polizei sprechen. Da müssten sie sich ja eventuell auch kritisch selbst reflektieren, Fehler eingestehen und vor allem, was gar nicht geht: Konsequenzen ziehen und Änderungen anstoßen. Gott bewahre!

Stattdessen wird lieber die gut geölte Maschinerie der medialen Empörung in Gang gesetzt. Das geht am verlässlichsten, einfachsten und schnellsten mit Hilfe der Bild. Die druckt selbstverständlich wie gewohnt jede Aussage des Heimat-Horsts mit Vorliebe und Handkuss. Gleichzeitig wird haarklein nachgerechnet, welche in Stuttgart Inhaftierten welche Nationalität haben.

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Mittlerweile hat der Innenminister Horst Seehofer sogar den Ort des Schreckens Stuttgart besucht, um die schlimmen Sachschäden genau in Augenschein zu nehmen. Für ihn wurde sogar extra nochmal der demolierte Polizeiwagen rausgeholt und feierlich enthüllt.

Was die Polizei, Horst Seehofer, die CSU und viele andere hier betreiben, ist ein Ablenkungsmanöver, wie es im Lehrbuch steht: Derailing und Täter*innen-Opfer-Umkehr vom Allerfeinsten. Plötzlich debattieren wir irgendwie gar nicht mehr über den Rassismus in der Polizei, Black Lives Matter und das, was daraus entstehen könnte. Stattdessen geht es jetzt plötzlich schon wieder darum, wie schrecklich Linke sind, was Satire darf und dass sich ja gar niemand um die arme Polizei sorgt. Huch, wie ist das nur passiert?

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Ein kurzer Einwurf an dieser Stelle: Wenn Jan "Polizistensohn" Böhmermann Erdogan rassistischerweise als "Ziegenf*cker" beleidigt, stellt sich Angela Merkel höchstpersönlich vor ihn und es gibt eine Gesetzesänderung. Aber wenn sich eine non-binary PoC über die Polizei lustig macht, gibt es stattdessen eine Anzeige? Wie zur Hölle ist das zu rechtfertigen? Und nein: Scherze über die Polizei sind nicht "nach unten treten", ganz im Gegenteil.

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Mittlerweile gibt es einen offenen Brief an Angela Merkel und auch eine Petition, die ihr unterschreiben könnt. Darin wird unter anderem gefordert, gegen Polizeigewalt vorzugehen und für Pressefreiheit einzustehen.

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Was Seehofer da macht, ist ein Angriff auf die Pressefreiheit

Es ist kaum zu glauben, aber Horst Seehofer hat tatsächlich in den Raum gestellt, dass die Randale in Stuttgart unter anderem auch durch solche Artikel wie "All cops are berufsunfähig" von Hengameh Yaghoobifarah entstanden beziehungsweise begünstigt worden sein könnte. Vor allem im Zusammenhang mit der Ankündigung, Strafanzeige stellen zu wollen, ist das für einen Innenminister schier unfassbar und natürlich auch einfach sehr undemokratisch.

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Nicht zu tolerieren: Das ist eine offene Attacke auf Presse- und Meinungsfreiheit. Vor allem zu diesem Zeitpunkt und aus dieser Richtung würde die Aktion fast schon lächerlich offensichtlich ablenkend wirken, wenn es nicht so ernst wäre. Oder, um die Logik einmal umzudrehen: Wo sind die Strafanzeigen von CSU und Polizei, wenn jeden Tag gegen Geflüchtete und Muslim*innen gehetzt wird?

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Wo waren die Anzeigen, als Seehofer ganze Bevölkerungsgruppen diskriminiert oder sich über Abschiebungen zu seinem Geburtstag gefreut hat? Als er davon gefaselt hat, Dinge exakt wie die Nazis "bis zur letzten Patrone" zu verteidigen? Wie kann es sein, dass dieser Mensch immer noch im Amt ist?

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Übrigens bewerten die meisten juristisch bewanderten Menschen die Aussichten der Strafanzeige so, dass sie ziemlich aussichtslos sein dürfte. Oder, anders formuliert: "Der Mann ist Verfassungsminister, er kennt die Verfassung nicht und missachtet das Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit."

Verteidigung taz-Kolumne: Wieso soll das verboten sein?

taz-Anwalt Johannes Eisenberg vertritt die taz-Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah. Hier schätzt er Horst Seehofers Anzeigeankündigung ein. BERLIN taz | Bundesinnenminister Seehofer hat ein gestörtes Verhältnis zu Persönlichkeits- und Grundrechten: In Bremen hat er in grober Weise die Rechte der früheren Leiterin der Ortstelle des BAMF verletzt und diese verleumden lassen.

Darum sollte es eigentlich gehen: Rassismus & Polizeigewalt

Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die gesellschaftliche Debatte so verschiebt. Wir dürfen diesen schäbigen Standard-Tricks nicht auf den Leim gehen und müssen weitermachen. Überall finden weiterhin Black Lives Matter-Demonstrationen statt, weil es überall auch immer noch dieselben Probleme gibt. Erst heute wurde schon wieder ein rechtes Terrornetz namens Nordadler verboten, die Probleme mit Polizei und Bundeswehr sind ebenfalls bekannt.

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Exemplarisch dafür stehen die wahrscheinlich größten Demonstrationen, die in Deutschland je gegen Polizeigewalt stattgefunden haben: Bei den beiden Black Lives Matter-Protesten in Berlin und Hamburg kam es zu gut dokumentierten Fällen von unverhältnismäßiger, offenbar rassistischer Polizeigewalt.

Schüler über Polizeigewahrsam: „Kurz vorm Zusammenbrechen"

Nach der Anti-Rassismus-Demo am vergangenen Wochenende hat die Hamburger Polizei Minderjährige in Gewahrsam genommen. Ein Betroffener erzählt. taz: Ilyas, wie kam es, dass du als 14-Jähriger nach der Anti-Rassismus-Demo in Polizeigewahrsam genommen wurdest?

Proteste gegen Rassismus in Berlin: „Hör auf zu zappeln"

Bei den Demos gegen rassistische Polizeigewalt in Berlin wurden viele schwarze DemonstrantInnen verhaftet. Vier erzählen ihre Geschichte. BERLIN taz | Mehr als 100.000 Menschen haben am Wochenende eine Bewegung gegen rassistische Polizeigewalt losgetreten. Nach der Ermordung des Schwarzen US-Amerikaners George Floyd vor zwei Wochen haben sie sich deutschlandweit in den globalen Protest unter dem Motto „Black Lives Matter" eingereiht.

Darum muss es auch weiterhin gehen. Davon dürfen wir uns nicht ablenken lassen. Bis es bessere Alternativen gibt. Kleine Schritte in die richtige Richtung wie unabhängige Beschwerdestellen (die nicht dem Polizeipräsidenten unterstellt sind), Kennzeichnungspflicht, ein Antidiskriminierungsgesetz und derlei mehr scheinen leider so gut wie nichts zu bringen.

Um dem Ruf "Black Lives Matter" gerecht zu werden, müssen wir den Fokus von den USA lösen

Rassistische Gewalt ist alltäglich und grundlegend - unser Kampf muss es auch sein Von Kofi Shakur Die Größe der Demonstrationen, die am ersten Juni-Wochenende unter dem Motto Black Lives Matter in etlichen deutschen Städten stattfanden, hat viele überrascht und einige Erwartungen übertroffen - gerade, wenn man bedenkt, wie wenig Aufmerksamkeit ähnlichen Demonstrationen in der Vergangenheit zuteil wurde.

Was helfen würde: Die Polizei abschaffen!

Doch, das geht. Es wäre wahrscheinlich sogar besser für alle. Nicht nur in den USA wird die Debatte rund um eine mögliche Abschaffung der Polizei immer größer. Das verbirgt sich theoretisch in letzter Konsequenz auch hinter der Forderung und dem Hashtag #defundthepolice. Es mag vielleicht kontraintuitiv wirken, aber es gibt eine Alternative.

Wird jetzt in Minneapolis wirklich die Polizei abgeschafft?

Update: Robin Wonsley Worlobah über den Aufstand in Minneapolis, Pläne, die Polizei abzuschaffen, und die Mehrfachkrise in den USA Interview: Stephan Kimmerle Das folgende Interview mit der Aktivistin Robin Wonsley Worlobah aus Minneapolis wurde zum Großteil am Sonntagnachmittag, den 31. Mai, geführt und in einer älteren Version bereits auf dieser Seite veröffentlicht.

Wir brauchen kein zweites Militär. Was wir brauchen, sind Investitionen in die Communitys, in öffentliche Strukturen, Hilfsangebote und Sozialarbeiter*innen. Es gibt einige Modellprojekte, viele Ideen und Theorien sowie Artikel, Gespräche und Interviews zu dem Thema: Diese positive Utopie ist gar nicht mal so unrealistisch, sondern eine kreative, menschenfreundliche Alternative.

Defunding Police: What It Takes to End Police Violence

Millions have taken to the streets with a clear and distinct call to end police violence and to defund police. They have been met with a brutal wave of repression from police departments across the country, with the unequivocal blessing of the Trump administration. We need to be explicit.

Stellt es euch vor: Wir brauchen keine Person mit einer Waffe, wenn wir einen psychiatrischen Notfall haben. Was wir brauchen, wäre jemand, der sich im Umgang mit akut psychisch Kranken auskennt. Jemand, der nicht noch mehr Angst und Schrecken verbreitet oder die Betroffenen einfach gleich über den Haufen ballert.

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In den USA gibt es erste Schritte in diese Richtung. Zumindest in Minneapolis wurde bereits erkannt, dass die Polizei und deren ganzes System so kaputt ist, dass Reformen allein nichts mehr bringen. Stattdessen soll nun überlegt werden, was an die Stelle der Institution treten kann, um die Dinge wirklich zu verbessern.

Das könnten wir auch in Deutschland machen, wenn wir nicht mit anderen Dingen beschäftigt wären.

Black Lives Matter: So kannst du dich über Rassismus informieren & helfen

Aufgrund der anhaltenden Proteste in Amerika ist das Thema Rassismus aktuell wieder so stark im Fokus der Öffentlichkeit wie lange nicht mehr. Der Mord an George Floyd durch einen Polizisten scheint der Tropfen gewesen zu sein, der das berühmte Fass zum Überlaufen gebracht hat.

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