"Null auf Hundert" – wie Kalim Straßenrap enteilt ist

Wird über Waffen gelabert? Jop. Sind einzelne Tracks nach Fußballstars benannt? Ja. Drogengeschäfte werden nur in der allerfeinsten Designerkleidung abgewickelt? Auf jeden Fall.
Kalims neues Album "Null auf Hundert" könnte sehr oberflächlich betrachtet ein weiteres schon oft gehörtes Straßenrapalbum sein. Stattdessen schafft der Hamburger jedoch eines der spannendsten Releases, die Deutschrap 2019 bisher zu bieten hat. Kalim ragt aus der Masse heraus. Er spielt nach eigenen Regeln und legt eine künstlerische Vision an den Tag, deren Feinheiten und Finessen sich erst nach und nach entfalten. Kurzlebigkeit ist nicht Kalims Anspruch.

"Nicht mehr lang, bis wir im Maybach liegen / Junge Macher, keine Eintagsfliegen" ("Kilo")

Kalim verbiegt sich nicht

Wer Kalim seit seinem AON-Debüttape "Sechs Kronen" oder sogar seit seinen ersten musikalischen Gehversuchen auf "Wo ich wohn" auf dem Schirm hat, der wird mitbekommen haben, dass er klassische Gangster-Motive bedient. Waffen und Packs sind Teil der Welt, aus der Kalims Kunst hervorgeht. Seine Veröffentlichungen zeichnen sich dabei durch eine kompakte Länge aus. Schon bevor das Streaming-Zeitalter die Tracklängen unter drei Minuten gedrückt hat, setzte Kalim auf prägnante Songs. Das Soundbild mag inzwischen ein anderes sein – der Produzent an seiner Seite ist jedoch größtenteils der Gleiche geblieben. Bawer (vormals David Crates) liefert genauso souverän Boombap-Bretter wie scheppernde Trapbanger. Der maßgeschneiderte Sound für Kalims druckvollen Straßenrap steht und fällt mit ihm.



Diese enge und lange währende Verbindung ist kein Zufall. Kalim richtet sein Handeln nach einem Kodex aus. Kaum etwas betont er derart oft, wie sein Leben nach gewissen Regeln, die wohl eher nicht im Grundgesetz stehen. Loyalität und der Familiengedanke haben Priorität: "Glaub mir, nur die Fam ist involviert." Was "Mbappé" in Kurzform aufgreift, hat auf "Thronfolger" in Form von (natürlich) "Kodex" einen eigenen Track spendiert bekommen.

Kalims Kreis bleibt klein – das ist so und das bleibt so. Er und seine Jungs in Hamburg-Billstedt machen das unter sich aus. Das ist einer von vielen roten Fäden, die sich durch Kalims Karriere ziehen. Wie er den Tod seines Freundes Faruk in sein Werk mit einbezieht, ist ebenfalls exemplarisch. Auf jedem seiner Alben gedenkt Kalim dem Verstorbenen. "Plan B", "Kodex" oder nun "1992" – Kalim setzt seinem Freund ein sich immer wieder erneuerndes musikalisches Denkmal. Auch Freiheit für inhaftierte Wegbegleiter fordert Kalim über Alben hinweg. Shoutouts an die Brüder im Zellentrakt sind keine kurzweilige Pose, sondern wahrhaftige Gedanken. Generell legt Kalim einen immensen Wert auf solche Verweise, Referenzen und Kleinigkeiten. Wie ein Klebstoff verbinden sie einzelne Alben und verdichten seine gesamte Diskografie zu einer großen Erzählung, in der nun mal Waffen, Koka und Sportcoupés nicht ausgeblendet werden können.

Alles hängt miteinander zusammen

Starten wir mit einem Beispiel aus Kalims letzten Album. Wie auf der Platte "Thronfolger" der Übergang von "Lila Regen" zu "Bis um 4" erfolgt, verdeutlicht wie Kalim auf ausgefeilte Art und Weise seine Alben arrangiert. Der erstgenannte Track endet mit einer Mailboxansage einer Frau, die Kalim seinen Lebensstil aus Feiern und Saufen vorwirft. Kaum ist die Ansage verklungen, gleitet Ace Tee in den Folgetrack hinein und singt über eine lange Nacht an Kalims Seite. So geht Storytelling über mehrere Tracks hinweg.

Ähnlich geschmeidig ist die Fadeout-Sequenz von "Wohin du willst" mit dem Beginn von "1 L Henny" verknüpft. Die aktuellen Tracks auf "Null auf Hundert" zitieren sich darüber hinaus ständig selbst und schließen an andere Stücke an. Es ist augenscheinlich keine Willkür, dass auf "Null auf Hundert" nach dem "Thronfolger"-Track "Bis um 4" nun "Bis um 3" als Titel auftaucht. So gelingt es Kalim, auch textlich über mehrere Alben Brücken zu schlagen. Was beim Billstedter in den Neunzigern los war, erzählt er ebenso über seine Alben hinweg ("1995", "1994", "1992").

Die Lyrics einzelner Tracks treten dabei in eine Art Austausch miteinander. Kalim trägt die "Sig Sauer an den Eiern" und lässt mit Nimo bei Sessions "Bis um 3" die weibliche Begleitung shaken – diese Infos sind nach ein paar Tracks präsent. In der Mitte des Albums auf "63" holt Kalim sie wieder hervor. Die gleiche Waffe ist dort weiter an den Weichteilen und auch irgendeine Eroberung "shakt, shakt, shakt" im bekannten Rhythmus. Der Titelsong "Null auf Hundert" stellt wiederum einen Rückbezug auf den Mercedes 63 her, der gerade noch tracktitelgebendes Element war. Dass Kalim am Ende seiner Platte mit "Offenem Verdeck durch Hamburg-Ost" fährt, weiß der der Hörende spätestens seit "Wohin du willst". Solche Beispiele lassen sich en masse herausfiltern, wenn man sich einmal auf Spurensuche begibt. Kalims Platz im Video "Offenes Verdeck" ist dabei selbstverständlich auf einem präsidialen Sessel. Schließlich hat er sich auf dem vorigen Album ja selbst als "Thronfolger" ins Spiel gebracht.

Auch bedient sich Kalim bei anderen Rappern. Haftbefehls Part auf MoTrips "Mama" wird zum Einstieg für "Mbappé". Dieses stimmige Samplen anderer Künstler gehört bei Kalims Kunst und natürlich beim Hiphop dazu. Auf "Playlist" aus "Odyssee 579" macht sich Kalim die Hook aus Marterias "Kids" zu eigen und deutet sie für eine Line um, sobald er "Keiner hat'n Job, alle haben Bock" anstimmt. Wenn man es wissenschaftlich ausdrücken möchte, schafft sich Kalim ein riesiges intertextuelles Netzwerk, in dem er ständig Bezüge zu anderen Texten neu herstellt.

Kalim vollendet seine Vision

Kalims Liebe für Referenzen und Querverweise machen ein Gefühl zumindest teilweise begreifbarer, das einen beim Hören der Musik ständig beschleicht. Das Gefühl, dass dort mehr passiert, obwohl die Sprach-Codes sich kaum von anderen Straßenrappern unterscheiden. Mit Kalim steckt dahinter aber mehr: Ein Künstler, der alles für den Song macht und nicht einen Song für alle. Seine Strukturen und Stimmeinsätze wirken unvorhersehbarer als bei der Konkurrenz. Kalim bedient sich bei keinem Standardrezept, sondern fordert sich und den Hörer heraus. Zu dieser Einstellung passt, dass sich die Feature-Gäste über die Jahre wiederholen. Kalim ist bei der Auswahl seiner Kollabopartner nicht darauf aus, auf Nacken irgendwelche Klicks abzustauben. Trettmann, Luciano, Xatar sind bei mehreren Kalim-Projekten am Start. Luciano ist sogar auf zwei Video-Singles vertreten. Eitel gibt sich Kalim nicht. Auch "Null auf Hundert" holt gleich zweimal reezy auf einen Track.

Diese Fokussierung auf kleine Besonderheiten spiegelt sich auch visuell wieder. MacDuke vollbringt es, allen Videos eine durchgehende Handschrift zu verpassen. Einen Shot wie im Video für "Bis um 3" macht man zudem wohl nur für den eigenen künstlerischen Anspruch. Die gesamte Visualisierung der letzten Alben von Singlecover über Fotos bis zu Videos erscheint wie aus einem Guss.

Beim Blick auf die Lyrics fällt auf, dass Kalim hier bewusst hin und wieder die Härte drosselt. Der Hamburger streut ziemlich humorvolle Zeilen ein, insofern man das Gesagte einmal sacken lässt. Er labert nicht nur mit der "Sig Sauer", sondern weist auch auf die ungemütlichen Folgen hin, wenn die Waffe unter der Designerware klemmt: "Sig Sauer an den Eiern, Ferragamo unbequem". Die Vorstellung wie Kalim den guten Tretti auf dem Jetski pumpt, ist ein durchaus amüsantes Bild ("Mbappé"). Hier macht der Hamburger noch eine weitere Ebene in seiner Kunst auf. Er befreit sich von der Verbissenheit, die der Struggle in der Gosse mit sich bringt. Die Straße lässt ihn zwar nicht los, aber sie hat ihm nicht den Humor ausgetrieben.

Kein Song, den Kalim auskoppelt, wirkt lieblos oder auf die Schnelle für den Zeitgeist produziert. Seine Alben erscheinen vielmehr als kohärente Gesamtwerke und sind der Gegenentwurf zu bloßen Ansammlungen von Einzelsongs. Wer Rap allerdings über stapelweise perfekt sitzende Nomenreime definiert, der wird sich in Kalims Welt kaum zurechtfinden. Zu nahe sind die gewählten Worte und Motive an einer Lebensrealität, in der jeder erdenkliche Luxus angestrebt wird, um den "Kopfkrieg" zu befrieden. Den Umgang mit diesem Leben schildert Kalim schonungslos. Glorifizierung findet so gut wie nicht statt. Vielleicht ist Kalim sogar der deutsche Rapper, der den Flavour des A$AP Mob am ehesten trift. Das Kollektiv aus New York wird wohl auch zeitlebens keine Preise für Dichtkunst gewinnen. Den mitunter düsteren Vibe, das Spiel mit Hall und Stimmverzerrungen kombiniert mit dem High Fashion-Talk – Kalim fügt all das hierzulande wie kaum ein Zweiter zusammen. Hamburg-Billstedt ist nicht Harlem, aber die Kunst für immer und die Vision gleichermaßen grenzenlos.

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