Goat oder egal? Das J. Cole-Dilemma

Hands down: J. Cole ist ein Megastar. Alle Songs seines aktuellen Albums "The Off-Season" charteten in den Top 40 der Billboard Charts – davon allein vier in den Top 10. Nur Olivia Rodrigo und Taylor Swift haben 2021 in der ersten Release-Woche mehr Alben verkauft. Das ist das Level, auf dem der in Frankfurt zur Welt gekommene Jermaine Lamarr Cole angekommen ist.

Trotz der Deutschland-Connection scheint die neue Cole-Season hierzulande (mal wieder) an der breiten Masse vorbeizuziehen. "The Off-Season" wie auch der Vorgänger "KOD" konnten sich irgendwo in den Top 20 platzieren. Ja, es sind nur Charts. Sie sind kein Gradmesser für Kunst. Dennoch verdeutlicht ein Blick auf so eine Rangliste, dass diesseits des Atlantiks J. Cole weit davon entfernt ist, in der ersten Reihe mitzuspielen. Dabei bringt er vermeintlich so ziemlich alles mit, was das Herz eines traditionsbewussten Rapfans begehrt.

J. Cole: Ein Goat in den Staaten

Wo sich große deutsche Wochenmagazine und überregionale Zeitungen sonst auf die Drakes und Kendricks dieser Welt stürzen, bleibt dieser Reflex bei J. Cole aus. Er fliegt dort regelmäßig unter dem Radar. Das ist umso bemerkenswerter, da es einige tausend Kilometer westlich keinerlei Zweifel an dem Stellenwert von King Cole zu geben scheint.

Die bekannte Playlist RapCaviar setzte kürzlich einen Mount Rushmore des US-Raps zusammen. Grundlage war das letzte Jahrzehnt. Statt US-Präsidenten kamen in der Abbildung Köpfe von Rappern zur Geltung. Drei Artists galten als fix: Drake, Kendrick Lamar und ... J. Cole (jetzt auf Apple Music streamen). Den freien Spot holte sich in einem Voting Nicki Minaj. Das Konzert der ganz Großen findet selbstverständlich mit J. Cole statt. Er gilt in den Augen vieler als einer der begnadetsten Rapper seiner Generation. Das Goat-Label (Greatest Of All Time) gehört dabei zum Standard.

Seinen durchschlagenden Erfolg verdeutlicht ein Meme, das vor allem 2016 viral ging. Der Spruch "J. Cole went platinum with no features", dominierte die Twitter-Timelines. Es bezieht sich vor allem auf den Platinerfolg des 2014 releasten Albums "2014 Forest Hills Drive". Auch die beiden Folgealben "4 Your Eyez Only" und "KOD" zieht Cole ohne Gäste auf – wenn man von dem Auftauchen seines Alter Egos kiLL edward absieht. Auf dem Titeltrack von "KOD" greift Cole seinen Hang zur Solomission auf.

"How come you won't get a few features? / I think you should? How 'bout I don't? / How 'bout you just get the f*ck off my d*ck? / How 'bout you listen and never forget? / Only gon' say this one time, then I'll dip / N***as ain't worthy to be on my shit"
Alle seine Studioalben (ausgenommen "The Off-Season") sind mindestens einmal Platin gegangen. Er verkaufte bei seiner KOD Tour zwei Tage in Folge das Staples Center in Los Angeles aus. Zum Vergleich: Drake spielt seine Stops der Aubrey & the Three Migos Tour im gleichen Jahr ebenfalls dort. Okay, der deutlich poppigere Drizzy füllte die Halle noch einen zusätzlichen Tag. Doch J. Cole produziert keine Songs, die es darauf anlegen, im Club oder auf TikTok zu funktionieren. Er hat sich einer Version von Rap verschrieben, die zwar alte und neue Strömungen vereint, aber stets den MC in den Vordergrund rückt.

J. Cole als der Prototyp-Rapper

J. Cole macht sich daher auch nichts aus allzu komplexen Genre-Experimenten. Er ist fokussiert auf seine Kunst. Auf Rap. Dabei ruht er sich nicht auf dem Erreichten aus, sondern strebt nach einem künstlerischen Maximum. Die Mini-Doku zu "The Off-Season" zeigt, mit welcher Hingabe er so ein Albumprojekt angeht. Er tritt an, um sich zu steigern, um möglichst als noch besserer Rapper daraus hervorzugehen. Im dritten Kapitel "The Climb Back" beschreibt er die Entwicklung einer Arbeitsroutine, um sich für das Haifischbecken Rap-Zirkus in Bestform zu präsentieren.

J. Cole lebt den Competition-Gedanken. Er will sich und der Welt beweisen, dass er der beste am Mic ist. Was auch nicht außen vorgelassen werden sollte: Er produziert selbst. Hier schielt niemand auf angepassten Output für die Streaming-Algorithmen. Es geht letztendlich um das, was auch heute noch permanent eingefordert wird: Bars! Und Cole hat massenhaft davon. Sein Freestyle bei den L.A. Leakers lässt die Kommentarspalte ausflippen.

"The Off-Season" erzählt vom Aufstieg, dem damit verbundenen Struggle, dem Grind für ein besseres Leben. Es sind klassische Hiphop-Themen, die das Album mit Tracks wie "a m a r i" und "m y . l i f e" angeht. Auch Selbstzweifel kommen auf den Tisch – Brands, Luxusgüter und die reine Darstellung des Reichtums weniger. Geht es nicht um Rap über Rap, schwingt bei all dem oftmals eine sozialkritische Note mit. Coles Vorgänger-Album "KOD" steht sogar komplett im Zeichen der Kritik an drogenverherrlichenden Kids. Wenn man so will, füllt J. Cole das Staples Center zweimal nacheinander mit Conscious Rap. Dabei überlässt er es den Zuhörer*innen, ob sie diese Herangehensweise fühlen oder ablehnen. Marketing gilt nämlich nicht gerade als seine Paradedisziplin. J. Coles Alben erscheinen, seine Videos droppen – in große Kampagnen sind diese Veröffentlichungen meist nicht eingespannt. Die Kunst soll für sich sprechen. Wer die Vision teilt, ist an Bord. Wer nicht, eben nicht.

In J. Coles Diskografie findet sich neben dem Soloplatin-Hustle auch ein ausgeprägter Community-Gedanke. Für "Revenge of The Dreamers III" hat er über 300 Künstler und Künstlerinnen zusammengeholt, um in einer zehntägigen Session einen Sampler zusammenzustellen. Letztendlich sind auf dem Grammy-nominiertem Werk 35 Rap-Artists und 27 Producer gelandet. Das Ding ist zudem Platin gegangen – mit sehr vielen Features. Artists aus allen möglichen Subgenres kommmen bei dem Projekt zusammen. DaBaby, T.I. oder Ski Mask The Slump God sind voll dabei, ohne plötzlich in den Conscious-Modus zu wechseln.

J. Cole lebt seine Träume

Vermutlich verfolgt jeder Mensch irgendeinen Traum. Manche haben es vielleicht sogar bereits geschafft, diesen zu verwirklichen. Jenen, die noch auf dem Weg dorthin sind, könnte J. Cole als Vorbild dienen. Der US-Star wollte immer Basketball spielen. Nicht nur im Hinterhof, sondern auf professionellem Niveau. Dieses ambitionierte Vorhaben hat er dieses Jahr in die Tat umgesetzt. Es hat zwar nicht für die NBA gereicht, aber immerhin für einen Ausflug in die BAL (Basketball Africa League). J. Cole stand für ein paar Games für ein Team aus Ruanda auf dem Feld. Bei seiner Performance erkennt er noch Steigerungspotenzial.

"Vielen Dank an alle, die trotz meiner Unerfahrenheit freundliche Worte für mich hatten. Ich plane, besser zu werden."

Man stelle sich vor, Marteria läuft doch noch für Hansa Rostock in einem Ligaspiel übers Feld. So eine fast unwirkliche Vorstellung hat J. Cole für sich realisieren können. Ein 36-jähriger Rapstar, der sich selbst verwirklicht – das kommt an.

J. Cole erinnert Menschen daran, an ihren Zielen festzuhalten. Daran, dass Dinge möglich sind, die zunächst außer Reichweite liegen mögen. In einem Land, welches bis heute unweigerlich mit dem American Dream verknüpft ist, fällt das auf fruchtbaren Boden.

Woran es bei J. Cole hapert

Und nun reißen wir das Image ein, das wir über den Artikel hinweg aufgezogen haben. Naja, nicht ganz. Dennoch: All das, was J. Cole als Versprechen mitbringt, kann er offenkundig nur in Bruchteilen hinter den Landesgrenzen einlösen. Den Goat-Status würde man J. Cole hier mutmaßlich auch nach mehrmaligem Nachdenken nicht zugestehen. Die Resonanz auf seinen märchentauglichen Basketball-Move ist ebenfalls sehr überschaubar.

2016 startete ein Online-Magazin "The Great J. Cole Debate". Zwei Redakteure diskutierten unter anderem darüber, ob J. Cole überhaupt ein guter Rapper sei. Sie machten insgesamt fünf Kategorien auf, um J. Cole zu bewerten. Auch Jahre später lässt sich aus diesem Streitgespräch ungefähr herleiten, warum der Multi-Platin-Künstler aus den Staaten hier von der breiten Öffentlichkeit gerne übersehen wird.

Punkt eins: J. Cole wirkt wie ein netter Typ von nebenan. Er hat kein Mysterium um seine Person und seine Kunst geschaffen, wie es Kendrick Lamar gelungen ist. Kollege Drake sorgt zudem regelmäßig auch abseits der Musik für Aufsehen. Beide Superstars spielen das Rap-Game auf eine Art und Weise, die J. Cole fernliegt. Ihm fällt mehr die unscheinbarere Rolle als "guter Samariter" zu. Übermäßig viel Starpotenzial schwingt da nicht mit. Stattdessen erscheint sein generelles Auftreten allzu bescheiden. Kein Wunder, dass J. Cole und das wenig schmeichelhafte Wort "langweilig" oft Seite an Seite auftauchen.

"Ich muss das jetzt einfach sagen, es tut mir wahnsinnig leid: Ich find den Typen einfach boring. Der ist mir ein bisschen zu Understatement. Ich finde, was er vermittelt als Charakter unfassbar gut und unfassbar wichtig. Dass er Kapitalismus und Materialismus im Hiphop mies anprangert und da so eine Antithese darstellt. [...] Aber Bro, du musst nicht aussehen wie jemand, dem ich 'nen Dollar geben will. Mich nervt das." – Ahzumjot im Interview auf Hiphop.de

Die zweite Kategorie betrifft die Relatability. Soll heißen: Inwieweit schafft es J. Cole, die Hoffnungen, Herausforderungen und Sorgen seiner Hörerschaft in seiner Kunst zu spiegeln? Diesen Punkt kann man ihm eigentlich kaum aberkennen. Er widmet sich Themen, die für fast jeden nachvollziehbar sind. Mit "Wet Dreamz" hat er einen ungekünstelten Song über das erste Mal gemacht. Es scheint so, als wäre er trotz der verdienten Millionen auf dem Boden geblieben. Wer das für Fassade hält, ist jedoch schnell raus. Einer der Autoren von "The Great J. Cole Debate" erkennt in J. Cole lediglich eine "vertraute Version" eines Typen, mit dem man sich verbunden fühlt.

Dritte Frage: Sticht J. Cole aus der Masse an Rappern heraus? Einerseits hat er es schon geschafft, eine Art Markenkern zu etablieren. Er macht sein Ding ohne größere Industrie-Moves und ist extrem erfolgreich damit. Dafür wird er nicht als Innovator in die Geschichtsbücher des Hiphops eingehen. Er hat Rap nicht stilsicher in den Pop überführt wie Drake und hat er noch nicht solche Türen aufgestoßen, wie es beispielsweise Young Thug oder Travis Scott taten. US-Mags sehen ihn als moderne Fortsetzung der New Yorker Legende Nas, aber da gibt es nun mal auch den echten Nas.

Ein weiterer möglicher Indikator für den ausbleibenden Cole-Effekt: Ami-Trends werden hierzulande oft aufgegriffen. Das ist nicht neu. Der Einfluss aus den Staaten ist an manchen Ecken des Deutschrap-Kosmos sogar überdeutlich. Trotz J. Coles Errungenschaften ist er bisher nicht übermäßig als Inspirationsquelle aufgefallen. Wer sich nach dem Zeitgeist richtet, landet nicht bei J. Cole. Eventuell ist es auch zu kompliziert an dieser Seite des US-Rapspektrums anzudocken.

Über die Skills von J. Cole lässt sich kaum streiten. Seinen Flow, die Themenauswahl und seine Delivery dürften nur wenige infrage stellen. Rap-Heads haben ihren Spaß an den Storys aus der Cole World. Zwischen all die Bars mischen sich aber immer wieder Lines, die beim Hören eher peinlich berühren. Ein Beispiel liefert gleich der Auftakttrack "95 . south" aus dem neuen Album: "Check your genitalia, p*ssy-n*ggas bleedin' on yourself"

Abschließend geht es um die Daseinsberechtigung. Diese möchten die beiden Autoren von "The Great J. Cole" dem Rapper trotz aller Kritik nicht absprechen. Es wäre auch anmaßend. Wer J. Cole einmal live gesehen hat, weiß, dass es ein Erlebnis ist. Er zaubert den Leuten ein Lächeln ins Gesicht. Seine Worte erreichen das Publikum.

Letztendlich macht J. Cole all das, was sich eingefleischte Rap-Enthusiasten immer wieder von der Kunst erhoffen. Doch der 36-Jährige scheint nicht die Lücke füllen zu können, die hier mancherorts frühe Wu-Tang-Alben, Nas' "Illmatic" oder andere Werke der Ära vor der Jahrtausendwende hinterlassen haben. Es steht dennoch außer Frage, dass J. Coles Weg überaus erfolgreich ist. Witze über seine Moves in der Hiphop-Welt gehen aufs Haus:

"If you broke and clownin' a millionaire, the joke is on you"

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