Am vergangenen Freitag hatte ich das Gefühl, dass ein Freund von mir gestorben ist. Vielleicht ist das Wort "Freund" anmaßend. Aber das ist das Gefühl.
Ich habe Xatar 2009 kennengelernt, hinter der Hiphop-Bühne des Rheinkultur-Festivals in Bonn. Er trug diesen legendären Fit, in dem er aussah, wie ein kolumbianischer Kartellboss in einem Film aus den Fünfzigerjahren. Weiße Hose, weißes Hemd, schwarzes Tanktop, Panamahut und ein Gehstock mit verchromtem Knauf. Das Outfit war absurd für einen Rap-Newcomer, der im Backstage eines kostenlosen Stadtfestivals auf einer Bierbank saß. Nur wirkte Xatar nicht wie jemand, der sich verkleidet hatte. Irgendwann rief er mich. Ich ging zu ihm und sagte, er solle mich doch nicht zu sich winken, als wäre ich sein Hund. Ich hatte ein paar Drinks zu viel und dachte wohl, ich wäre auch ein Kartellboss. Xatar entschuldigte sich höflich und wir unterhielten uns.
Am nächsten Tag fragte ich mich, ob ich unnötig einem krassen Typen Ansagen gemacht hatte, oder ob er einfach ein Musikstudent war, der eine Kunstfigur spielte. Er hätte mir ja auch seinen Gehstock auf den Kopf hauen können. Das war ein halbes Jahr vor dem berüchtigten Goldraub. Eine Flucht nach London, die er für ein Studium nutzte (er wurde wegen Drogenhandels gesucht und studierte dann International Business und Music Business) hatte er da schon hinter sich.
Ich war nicht der Letzte, der sich solche Fragen stellte. Giwar war alles. Gebildet, respektvoll, höflich und interessiert. Aber auch Straße. Immer authentisch. Aber auch immer ein bisschen drüber.
Es gab nie nur eine Wahrheit
In den folgenden Jahren habe ich Xatar mehrmals bei Festivals interviewt. Aber auch auf der Bühne der Frankfurter Buchmesse. In "Alles oder Nix: Bei uns sagt man, die Welt gehört dir" listete er seine Erlebnisse auf: den kurdischen Unabhängigkeitskampf, den seine Eltern geführt hatten, als er ein Kind war. Den Goldraub und die Folter, nachdem er im Irak verhaftet worden war. Den Vorfall in der Playboy Mansion, die Flucht nach Mexiko mit Hilfe von Sido und DJ Tomekk, Startkapital für AoN durch Geldeintreiben in Skandinavien und Koks aus Peru, Psychogangs in London, das albanische Militär. What the fuck?
Im Buch schreibt Xatar "Mein Leben fühlt sich immer häufiger an, als wäre es gar nicht mein Leben. Es fühlt sich an, als wäre es eine Vielzahl von Leben." Er schreibt auch: "Es gab für mich nicht nur eine Wahrheit. Es gab unzählige. Es gab eine Wahrheit für meine Familie, es gab eine Wahrheit für das Gericht, es gab eine Wahrheit für meine Kunst. Und es gab meine Wahrheit." Ich versuchte herauszufinden, welche Wahrheit jetzt in diesem Buch steckte, das authentisch, aber auch immer ein bisschen drüber wirkte.
Ein echter Künstler
In den letzten Jahren haben wir uns häufiger persönlich unterhalten, unabhängig von Interviews. Giwar ist immer so geblieben, wie ich ihn auf der Rheinkultur kennengelernt habe: respektvoll, höflich, interessiert. Er teilte Ideen, der vertrat eine Meinung, er bat um Rat. Während er eine Sache beendete, fing er vier neue an. Auch nach dem Buch produzierte er die unglaublichsten Geschichten. Die Streamingrekorde mit Eno, Mero, Sero El Mero. Mehrere Labels. Das Köfte-Unternehmertum. Der Goldmann Tower. Die Idee, mit Start-Up-Bros Unternehmensanteile gegen Aufmerksamkeit zu tauschen.
Xatar war vor allem Musiker. Kreative Beats, Einflüsse aus Vorderasien, Perfektionismus, Texte, die ehrlich sind, ein großes Talent, Geschichten zu erzählen. Er war kein Krimineller, der seine Erlebnisse auf den Beat spricht. Er war ein Künstler.
Marketing-Jiu-Jitsu
Außerhalb der Hiphop-Kultur machten ihn die Marketing-Stunts bekannt. Xatar war ein Meister darin, aus viralen Momenten Kapital zu schlagen. Er nannte das "Marketing-Jiu-Jitsu": "Ich versuche mit dem, was ich kriege, etwas zu bauen." Man sagt immer, der Hiphop-Spirit sei, etwas aus dem Nichts zu erschaffen. Dabei war der Hiphop Spirit immer genau das, was Xatar besser konnte als jeder andere: Zu erkennen, dass man eben nicht nichts hat, sondern extrem viel, wenn man nur originell genug darin ist, die Teile zusammenzusetzen.
Anstatt sich darüber abzufucken, dass man im Internet darüber lachte, wie er im Knast von besserem Essen träumte, machte er ein Produkt aus dem Meme. Und eine Restaurantkette. Das war sein Ding: Memes produzieren, virale Momente erschaffen und die Welle surfen. Weil das weit über Rap hinaus interessant ist, wurde er in Marketing-Podcasts eingeladen und hielt beim OMR Festival eine Key Note vor Deutschlands größter Kongress-Crowd.
Das verhinderte nächste Kapitel
Dass mit Fatih Akin schließlich einer der bedeutendsten Regisseure Deutschlands Xatars Leben verfilmte, war nur folgerichtig. "Rheingold" fühlt sich an, als würde man vier Filme gleichzeitig sehen: einen politischen Thriller, einen Actionfilm, einen Gangsterfilm – und zwischendurch eine Komödie. Es wurde der erfolgreichste Film in Akins Karriere. Wie hätte ein Film über Xatar auch anders enden sollen?
Xatar hatte ein unglaubliches Talent darin, aus Niederlagen Siege zu machen. Der gescheiterte Goldraub lieferte die Basis für seine Rapkarriere. Wenn die Rapkarriere nicht gut genug lief, um bei jedem Tourstopp 1.000 Gäste zu ziehen, performte er in bestuhlten Konzertsälen mit der Band von Stefan Raab. Als Goldmann in die Insolvenz taumelte und AoN die Luft ausging, erlebte er mit seinem Film den Höhepunkt seiner Karriere. Er hatte die Vision, in Serien und Filmen weitere Geschichten von der Straße zu erzählen. Er sagte mir das im selben Satz, in dem er mir mitteilte, dass er überlegte, seine Rapkarriere zu beenden. So wie aus Ewa Malanda Schwesta Ewa werden konnte, könnte aus dem Leben des nächsten interessanten Menschen der nächste Blockbuster werden. Ssio, Schwesta Ewa, Eno, Mero, Ra’is, Kalim,... welcher Rapstar hat so viele weitere Stars ins Spiel gebracht? Ich habe ihm ohne Zweifel zugetraut, dasselbe im Filmbusiness noch mal zu machen.
Hiphops wichtigster Beitrag zur deutschen Kultur
Das letzte Xatar-Konzert, das ich besuchte, 2023: Gangsterrapper Xatar, Sohn eines Dirigenten und Komponisten, der vor Krieg und Verfolgung aus Kurdistan geflohen war, stand in der Kölner Philharmonie auf der Bühne. Wieder mal erzeugte er einen Moment, dessen Bedeutung weit über ihn selbst hinausging. Ein verurteilter Krimineller kann als Musiker durch die ehrbarsten Häuser der Hochkultur ziehen, sie füllen und auf der Bühne überzeugen. Wieder mal wird er sich selbst gefragt haben, wie er da eigentlich hinkam – obwohl es gleichzeitig völlig plausibel war. In den letzten Jahren hatte er noch in Talkshows erklären müssen, dass man nicht dumm oder schlecht erzogen sein muss, um in der Kriminalität zu landen. Sämtliche Statistiken zeigen, wie viel höher das Risiko ist, kriminell zu werden, wenn man von Armut und Rassismus betroffen ist. Dennoch wundern wir uns bis heute, wenn ein Deutschkurde aus einem Kulturhaushalt kommt. Und darüber, dass jemand aus einem Kulturhaushalt Goldtransporter überfällt. Und darüber, dass jemand, der Aufmerksamkeit bekommt, weil er Goldtransporter überfällt, ein großartiger Musiker sein kann.
Rapper, die ihren Migrationshintergrund nicht verstecken, sondern betonen, sind der wichtigste gesellschaftliche Beitrag, den deutscher Rap liefert. Das gilt vor allem für Gangsterrapper. Weil sie sich nicht durch intellektuelle Themen und studentisches Auftreten als Token anbieten, sondern die Klischees, die ihnen entgegengebracht werden, zu einem Gangsterfilm überdrehen und so die zehnfache Ablehnung provozieren. Wenn sie sich dennoch durchsetzen, beweist das nicht nur ihr Können – sondern auch, wie falsch die Klischees sind, gegen die so viele kämpfen.
Er hätte das Bundesverdienstkreuz verdient
Xatar war dieser Rapper. Er präsentierte eine fast Comic-haft überzeichnete Persona, die gleichzeitig zu Einhundert Prozent authentisch war. Er konnte sympathischer und rhetorisch besser reden, als jeder Talkshow-Moderator, anspruchsvolle Musik produzieren und unternehmerische Pionierleistungen vollbringen. Die Menschenrechtsaktivistin und Journalistin Düzen Tekkal spricht in ihrer Beileidsbekundung darüber, selten jemanden getroffen zu haben, der sich so für die Rechte von Minderheiten eingesetzt hat. Er war eine Identifikationsfigur. Er hatte keinen frühen Tod verdient, sondern das Bundesverdienstkreuz. Dafür, wie viele Türen er geöffnet und wie viele falsche Vorstellungen er gesprengt hat. Kaum vorstellbar, was er in den nächsten zwanzig Jahren gerissen hätte.