Wenn der Tod dem Leben einen Sinn gibt: Kendrick Lamars "DAMN."

Nicht erst seit Trump scheint die USA sich verirrt zu haben. Ihr Präsident wirft mit Dekreten um sich, in der Hoffnung, von tatsächlichen Problemen abzulenken. Wie etwa, dass reihenweise junge Afroamerikaner durch die Hände von Polizisten ihr Leben lassen. Kendrick Lamar, kritischer Kopf der Hiphop-Revolution, stirbt gleich zu Beginn seines neuen Werks DAMN. Erschossen von Justizia, die "frustriert auf der Suche nach etwas" im Dunkeln tappt. Kurz bevor Lamar das Zeitliche segnet, rauscht sein Leben an ihm vorbei. Erinnerungen, Wünsche, Hoch- und Tiefpunkte. Erst wenn das Leben seinen Sinn verliert, hat man so richtig Zeit, darüber nachzudenken. Kurios. Vielleicht ist DAMN. auch aus diesem Grund die introspektivste Platte des Rappers geworden. 

Mit dem Vorgänger To Pimp A Butterfly sorgte Kendrick Lamar 2015 für Zündstoff: Für das monumentale Album lud er damals Funk-Väter wie George Clinton und die Isley Brothers ins Studio ein, suchte Hilfe bei Quincy Jones und Prince. To Pimp A Butterfly wurde zur Hiphop-Oper, ein Musical für die Ghettos. Hochemotional und pompös produziert, platzte aus jeder Pore politische Wut. Mit "We gon' be alright!" schrieb Kendrick Lamar eine Ode an den Optimismus, die die nächsten Jahrzehnte überdauern wird.

Auf der Suche nach Gott

Doch Kritik kann belastend sein, auch für den Kritiker. To Pimp A Butterfly strengte an, beim Hören und sicher auch beim Schreiben. Der 29-Jährige hatte seine Heimatstadt auf sein Major-Debütalbum good kid, m.A.A.d city gepresst und anschließend auf Butterfly seinem Volk die Stirn geboten. DAMN. ist die logische Schlussfolgerung der letzten Jahre Lamars. Er sackt zusammen, erschöpft, auf der Suche nach Rast. Er horcht in sich hinein und findet: Gott. Bedeutend mehr als zuvor rückt auf DAMN. das Motiv der Religion in den Fokus. Was ist gut und was ist böse? Ist es das Sündigen oder die Schwäche, der Sünde zu widerstehen, das die Menschen in den Ruin treibt? "Is it wickedness or is it weakness?" – die Grundsatzfrage, mit der DAMN. beginnt.

Geboren in Compton, Amerikas Büchse der Pandora, ist Lamars Leben immer eine Gratwanderung zwischen richtig und falsch gewesen. Das Ghetto an der US-Westküste hat seine eigenen Spielregeln. Es liegt in ihrer Natur, nicht mit denen der Gesellschaft – oder der Religion – kompatibel zu sein. Moral rückt in den Hintergrund, wenn immer und immer wieder der Stärkere den Kampf ums Überleben gewinnt. Auch der Schwächere muss sich irgendwann entscheiden, ob er Mörder oder Ermordeter sein wird. Die Reise durch Lamars Gemüt endet nach der Aufarbeitung seiner afroamerikanischen Identität (DNA.), seiner Karriere (FEEL.) und zweier christlicher Todsünden (PRIDE. und LUST.) schließlich bei GOD..

Die Welt ist klein

Am gravierendsten wird das Dilemma zwischen richtig und falsch, Sündigen und Widerstehen, auf dem letzten Song seiner Platte – nach der Göttlichkeit bleibt nur noch DUCKWORTH., sein Nachname, der Nachname seines Vaters. Kendrick Lamar Duckworths Vater, der irgendwann in den 80ern in einem Schnellrestaurant in Compton arbeitet, das überfallen wird. Der Räuber, Anthony Tiffith, verschont ihn und entscheidet sich dazu, Lamars Vater am leben zu lassen. Die Welt ist klein: Tiffith gründet Jahre später eine Plattenfirma und nimmt einen 15-jährigen Jungen unter Vertrag. Der Junge wird Hiphop revolutionieren und dem Tag huldigen, an dem sein Förderer seinen Vater nicht erschossen hat. In einer Stadt, wo das Gegenteil niemanden gewundert hätte.

Wie man das Leben anpackt, ist eine bewusste Entscheidung. Lamar muss am Ende der Platte erkennen, dass er in seinen ersten drei Jahrzehnten die falsche getroffen hat: "It was always me versus the world. Until I found it's me versus me". Alleine gegen die Welt zu kämpfen, das wollte schon Tupac Shakur, dessen Geist immerfort über Lamars Werke hängt.

Kendrick Lamar hat der Westcoast ein Illmatic geschenkt und das The Times They Are a-Changin des Obama-Zeitalters geschrieben. Jetzt, an einem Karrierepunkt, wo sich Drake – scheinbar Lamars einziger Gegner, was Zahlen und Auszeichnungen angeht – für unpersönliche Pophits und austauschbare Inhalte entschieden hat, stößt Kendrick Lamar mit seinem dritten Nummer-1-Album das Tor zu seiner Seele noch weiter auf. Als Teil einer Gesellschaftsschicht, an die niemand mehr glaubt, findet er den Glauben als letzten Ausweg. Wenn nichts mehr bleibt, kann alles kommen.

Kendrick Lamar - DNA.

Dir: Nabil & the little homies Producer: Anthony "Top Dawg" Tiffith, Dave Free, Angel J Rosa Production co: TDE Films, AJR Films (C) 2017 Aftermath/Interscope (Top Dawg Entertainment)

Aria Nejati

Autoreninfo

Aria Nejati ist seit 2013 Teil des Hiphop.de-Teams, diente schon als Chefredakteur und Creative Director. Er besuchte Kanye West in Wyoming, Snoop Dogg in Los Angeles und interviewte Travis Scott für das deutsche GQ-Cover.