Nein, "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" ist nicht Kanye Wests bestes Album

Manchmal, so muss man zugeben, ist man hinterher schlauer.

Wenn man nach den besten Hiphop-Alben aller Zeiten sucht, stößt man früher oder später auf Kanye Wests vermeintliches Magnum Opus My Beautiful Dark Twisted Fantasy. Das perfekte Album, sagt man seit Ende 2010 gemeinhin. Pitchfork ehrte das Album mit den vollen 10 Punkten – eine Leistung, die seitdem niemand mehr zustande bekommen hat. Metacritic errechnet eine Bewertung von erstaunlichen 94%, der Rolling Stone zählt die Platte zu den 500 besten Alben aller Zeiten. The Independent spricht von einem der "prunkvollsten und grandiosesten Pop-Momente voller musikalischer Extravaganz", die Los Angeles Times ging sogar so weit, Kanye West anhand dieses Albums mit Pablo Picasso zu vergleichen. Während deutsche Medien, wie der Spiegel, von Kanye als "kindisch, selbstverliebt, großmäulig" sprechen, müssen auch sie zugeben, dass er ein Genie ist. Es ist eines der 1001 Alben, die du vor deinem Tod gehört haben musst.

Trotzdem – und das ist das Wahnsinnige an Kanye West – ist My Beautiful Dark Twisted Fantasy nicht sein bestes Album. Es ist auch nicht sein zweitbestes. "I understand how to make perfect. Dark Fantasy could be considered to be perfect." Unlängst hatte der Urheber des Wahnsinns verstanden, wozu er in der Lage ist. Als er 2009 einem 19-jährigen Country-Sternchen das Mikrofon aus den Händen riss, verpasste Kanye seiner eigenen Karriere einen deftigen Uppercut. Lange Zeit ließ er sich nicht mehr in seinem Heimatland sehen. Paris, Rom, Tokyo und Honolulu wurden zur kreativen Brutstätte eines vollkommenen Albums. Orte, an denen er fern vom Rummel und den Schlagzeilen arbeiten, ruhen und wahrscheinlich weinen konnte.

Kanye West - Power (Music Video)

Working with director Marco Brambilla, UVPH created additional 3D graphics for Kanye West's "Power" music video. (caution: uncensored version of the video posted within)

Doch statt eines Knockouts setzte der Schlag wie bei besonders guten Boxern eine ungeahnte Energie frei. Yeezus brach nicht, er wuchs daran. Er tappte nicht in die Falle des Ausgestoßenen, sondern lernte, wie man sich zu verhalten hat. Kanye West biederte sich an, drehte seine Produktionen so stark Richtung konsumfähigem, flächendeckendem Pop wie noch nie zuvor. Power, so sagt er selbst, sei die einfachste erste Single seiner Karriere. Es ist kein progressiver, kein herausfordernder Track. Er wurde gebaut, um zu gefallen. Gebaut, um sich zu entschuldigen. Bei Taylor Swift, bei Kritikern und wohlmöglich auch beim ersten schwarzen Präsidenten der USA, der Kanye ganz nebenbei als "Jackass" beleidigte. Es funktionierte. Dark Fantasy erfüllte seinen Zweck. Als es bei den Grammys nicht für das beste Album des Jahres nominiert wurde – weil auch Watch The Throne im selben Teilnahmerhythmus lag und die Jury-Stimmen sich ungünstig aufteilten – stärkten ihm mindestens so viele Menschen den Rücken, wie ihn vor Monaten noch aus dem Land gescheucht hatten. "Went from most hated to the champion". Welch Achterbahnfahrt.

"Aber deswegen bin ich nicht hier", stellt Kanye in Bezug auf das perfekte Album fest. "Ich bin hier um den Asphalt zu durchbrechen, neue Wege einzuschlagen. Musikalisch und kulturell."

Spätestens mit seinem dritten Album Graduation hatte Yeezy genau das zum ersten Mal geschafft. Im Alleingang besiegte Kanye West 2008 den Gangsta-Rap. Er trug ihn nach Jahrzehnten unfassbaren Erfolges zu Grabe, als er dessen erfolgreichsten Vertreter 50 Cent im Verkaufsbattle in die Tasche steckte. Während er fast unbemerkt vom Dropout zum Chartjäger wurde, zog er allerdings selbst die Reißleine. Die Arbeit war getan. On to the next one.

Denn auf Champion und Good Life folgte ein Schicksalsschlag, der Kanye nie wieder loslässt: Seine Mutter Donda West verstirbt urplötzlich an den Folgen einer Operation. Darauf folgt das eigentliche Lebenswerk ihres Sohnes. Ein Album über Schmerz und Enttäuschung. Gefühle, die West nicht in Rap ausdrücken kann. Er nimmt einen anderen, unkonventionellen Weg und landet in den Geschichtsbüchern mit 808s & Heartbreak. Eine Platte, ohne die es Tastemaker und Kritikerlieblinge wie Drake, A$AP Rocky, The Weeknd, Frank Ocean, Future, Travi$ Scott und Young Thug Jahre später nie gegeben hätte. 808s & Heartbreak ist regelrecht der Türöffner für eine ganze Generation an Pop- und Rapstars, die mutig genug sind, von traditionellen Thematiken, Texturen, Stimmlagen, Betonungen, Melodien und Arrangements Abschied zu nehmen. 

Die Frankfurter Allgemeine hätte nicht fataler daneben liegen können, als sie schrieb, dass Kanye mit dem Album bezüglich der "Ästhetik so sehr einem Trend hinterherlaufen" würde, dass "seine herausragende Position als wegweisender Produzent und Klangneuerer" in Gefahr sei. Tatsächlich rannte 808s & Heartbreak jeglichen Trends meilenweit davon und zementierte Kanye West als wichtigsten Musiker des bisherigen Milleniums. Jahre später spricht The Weeknd, mittlerweile selber Weltstar, von dem "wichtigsten Kunstwerk meiner Generation". Dessen früher Mentor Drake nennt Kanye "den einflussreichsten Künstler für meinen Sound".

808s & Heartbreak ist das Album, das seit der Jahrtausendwende die meisten erfolgreichen, innovativen und qualitativen Musiker maßgeblich geformt hat. Eine Klangästhetik zwischen R'n'B und Hiphop, die dem Zuhörer abverlangte, sich damit außeinanderzusetzen um sie zu begreifen. Nicht passgenau auf bisherige R'n'B- und Hiphop-Schablonen, nicht ohne Weiteres in eine Schublade zu legen. Und genau das sind die Momente, die die (Musik-)Welt aus den Angeln heben. "Den Asphalt durchbrechen".

Wie passend, dass ein halbes Jahrzehnt später kaum etwas davon bei Kanye West übrig geblieben ist – bis auf die Tatsache, dass er nach wie vor auf der Suche nach dem möglichst Wahnsinnigen ist. Yeezus, so verriet Kanye, sollte mit Blood On The Leaves beginnen – dem einzigen Überbleibsel des mittlerweile etablierten Heartbreak-Sounds. Ein Clubbanger mit gespenstischem Nina Simone-Sample und HudMo-Synths, prädestiniert als erste Single. Nicht für Kanye West. Das wäre ja langweilig. Blood On The Leaves landet irgendwo auf Anspielstation 7. Das Album beginnt stattdessen mit einem verzerrten Stroboskop aus Industrial und Techno, produziert von Daft Punk. Warum? "That's how life is. It's like a car crash. You could just be driving, and just out of nowhere it happens."

Wir reden über Kanye West, keinen gewöhnlichen Musiker. Deswegen reicht kein gewöhnliches, gutes Album um seinem Gesamtwerk gerecht zu werden. My Beautiful Dark Twisted Fantasy erschien im Jahre 2010 genau diese Woche. Es hat Mainstream-Experten und Kritiker seiner Zeit bekehrt – und doch wird es sich hinten anstellen müssen. Seine Glanzleistungen rief Yeezy stets ab, als er seine verletzlichsten (808s & Heartbreak) und frustriertesten (Yeezus) Momente vor aller Welt blank legte.

Alben, die für einen Ruck sorgten.

Aria Nejati

Autoreninfo

Aria Nejati ist Teil der Chefredaktion. Er sprach schon mit US-Stars wie Eminem und den Migos und hatte deutsche Größen wie Kool Savas und Cro im Interview. Montags läuft sein Format On Point. Außerdem schreibt er unter anderem für die GQ, die ZEIT und die db mobil.