Wer RAF Camora verstehen will, muss "Therapie nach dem Album" gehört haben

Bilder von ausverkauften Hallen. Bilder von Goldplatten. Videos von Kids, die seine Stadt zur Albumankündigung lahmlegen und ihn erkennen von Sarajevo bis Kiel. RAF Camora ist in den letzten Jahren zu einem der größten Stars geworden, die die deutschsprachige Rapszene je gesehen hat. Trotzdem fliegen heute wie auch schon vor vielen Jahren schwarze Raben durch seine Videos, die unweigerlich etwas Dunkles mitbringen.

Wer RAFs Musik und Videos der Gegenwart wirklich verstehen und nicht nur konsumieren will, der muss tief in die Diskografie des Westwieners eintauchen. Graben, suchen, finden, waschen und richtig einordnen. Selbst angesichts des stetigen Erfolgs der letzten Jahre schafft er es nämlich wie wenige Artists auf seinem Level, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verknüpfen.

Es gehört zu seinen Stärken, die persönliche Geschichte albumübergreifend weiter zu schreiben. Mal expliziter, mal impliziter. Als er nach "Nächster Stopp Zukunft" seine Tracklist für das neue Tape mit Songtiteln vorstellte, die genau so oder in ähnlicher Form schon auf "Therapie vor dem Album" zu finden waren ("Traumatisiert", "Bevor ich gehe", "Party zu 10t" bzw. "Party zu 5 oder 10"), gab es Kritik aus der Fangemeinde. Damals bezog RAF für die treuen Supporter im Beatlefield-Forum Stellung. Heute werden sie wissen, welche Rolle textliche Querverweise für ihn spielen. Und er hat ohnehin längst subtilere Wege dafür gefunden als doppelte Songtitel.

Das Tape "Therapie nach dem Album" hat mit "Schwarzer Rabe" und "Kranich" unverzichtbare Referenzpunkte für RAFs Diskografie zu bieten. Manch ein Fan würde sicher die These vertreten, dass diese Platte sogar wichtiger ist als das Debütalbum "Nächster Stopp Zukunft" – dieser Artikel soll zeigen, warum das so ist.

RAF Camora: Für immer Wiener aus Fünfhaus

RAF Camora hat schon immer Liebe für seine Hood gezeigt. Der Wiener Stadtteil Fünfhaus ist seit Kindertagen seine Heimat und schon bei den ersten Releases ein Ankerpunkt. Nachdem es schon auf "Therapie vor dem Album" 2008 "Skandal in 5-Haus" gegeben hatte, landete ein Song mit den Titel "5 Haus" auf "Therapie nach dem Album".

"Aufgewachsen Fünfhaus, Bruder Geibelgasse 3 / Ein Italiener zwischen 100 Fahnen von Galatasaray"

Im Song zeichnet RAF präzise sein Revier von damals auf die Karte: Von der Schmelzbrücke, die seine Gegend kurz vorm Westbahnhof Richtung Norden abgrenzt, bis zur Längenfeldgasse im Süden. Im Osten bildete der Gürtel die "Grenze zwischen Österreich und 1150". Mittendrin: der Dadlerpark.

"Werd' ich zum Star, mach' ich den Dadlerpark berühmt / mit der einen Hand 'ne Faust, mit ander'n Hand 'ne Fünf"

Früher spielte er hier Dosenfußball und benutzte mit seinen Freunden Müllsäcke zum Bobfahren, wie er in dem Song erwähnt. Vor seinem Gratiskonzert in der Marx-Halle 2018 machte er genau dort wieder Halt, um Fans CDs zu schenken und Selfies mit ihnen zu schießen. Früher wäre er vielleicht einer von ihnen gewesen. Nur wenige Meter um die Ecke steht auch heute noch die Pizzeria Mafiosi, für die damals 25 Schilling reichten.

In seiner 2017er-Hommage an Wien ("Vienna") greift er die Zeilen aus "5 Haus" wieder auf uns connectet sie mit der Gegenwart. Was leicht überhört werden kann, offenbart sich im Rückblick auf 2010 als glasklare Anspielung:

"Ich bin ein West-Wiener / Ottakring hat das Bier, aber 1150-Wien hat Camora / Früher war ich überall, heut' mit Maske im Dadlerpark, bin undercover / Pizza Mafiosi hat gut Hunderttausend an mir verdient / Trotzdem erkennt mich der Besitzer nie" ("Vienna", 2017)

Freiheit in der Ferne: Von "Kranich" zu "Neptun"

Neben RAFs Wurzeln – Fünfhaus, Wien und der Familie – scheint es zunächst paradox, dass auch sein Drang, dem allem zu entfliehen, sich konsequent durch die Diskografie zieht. Das mag heute andere Gründe haben als noch 2010. Damals war zum Beispiel seine Winterdepression auf manchen Songs und Tapes nicht zu überhören. Auf "Therapie nach dem Album" verknüpft er diese unmittelbar mit seinem Fernweh. Auch damals zog es ihn schon nach Spanien:

"Den ganzen Winter depressiv, Junge echt wahr / F*ck Silvester, lieber Fiesta, Fi-esta" ("Kranich", 2010)

Die Treppe, die auf beiden "Palmen aus Plastik"-Covers zu sehen ist, RAFs Überlegung, sich eine Wohnung in Barcelona zuzulegen, sowie der gleichnamige Song mit Gringo, der 2019 erschienen ist, zeigen: Daran hat sich nichts geändert. Aber es geht um mehr als konkrete Reiseziele. Die Ferne bedeutete 2010 Freiheit und das tut sie auch 2019, nach etlichen Gold- und Platinplatten, noch.

"Ich seh die Vögel fliegen, um im Süden dann 'nen Ort zu suchen / Ohne Flüge lange vorzubuchen / Ich werde einer von ihnen, dreh' meinen Kopf dorthin, wo's warm ist / RAF ... Camora wie ein Kranich"

Der Song stellt auf dem Tape von 2010 in Sachen Songwriting ein Highlight dar, das Zuhörer wissen lässt, welches Talent in diesem damals 26-jährigen Raphael Ragucci steckte. Musikalisch konnte man schon hier erkennen, dass er die Gabe besitzt, Inhalt mit Melodie zu verknüpfen und etwas zu produzieren, für das mir kein besserer Name als Straßenpop einfällt. Authentisch und eingängig. "Kranich" ist auch nach Jahren noch ein Ohrwurm, der für Gänsehaut sorgt.

Hat man diesen Song im Hinterkopf, hört man "Bye Bye" (2017) mit anderen Ohren. Er macht es zunächst nicht zu offensichtlich, aber der Song auf "Anthrazit" offenbart sich an einigen Stellen als eine inoffizielle Fortsetzung. Die subtileren Verknüpfungen findet man im sommerlichen Teint oder dem Ziel der Reise, die ohne große Planungen losgehen soll.

"Unter der Sonne kriegt ein Weißer wieder Farben / Lieber raven gehen als Raven sein, mit Geistern und 'nem Raben" ("Kranich")

"Tage kommen und geh'n, die Zeit wird knapp / Im Sommer bin ich braun, im Winter weiß wie'n Blatt" ("Bye Bye")

"Neue Stadt, neues Land, ¡hola chica!, ¿qué tal?" ("Bye Bye")

Spätestens in der Hook klingelt es bei jedem, der "Kranich" kennt. Die Zeilen aus dem Refrain von 2010 werden hier zwischen dem repetitiven "Bye Bye" eingespielt und stellen ganz konkret den Zusammenhang her. RAFs Fazit im Vergleich von 2010 zu 2017: Das Fernweh bleibt.

"Hab' mich immer schon gefragt, ob ich derselbe bliebe, wenn ich reich wär' / Doch genau jetzt hat meine halbe Mille auf der Bank so gut wie kein'n Wert" ("Bye Bye")

Das alles verdeutlicht auch die persönliche Bedeutung beider Songs für RAF. Er bezieht sich auf "Kranich", weil diese Nummer für ihn rückblickend wie eine präzise Momentaufnahme seines damaligen Lebens wirken muss. Wie ein Hochglanzfoto, das er sich ansieht, nur um in der Spiegelung zu erkennen, dass die Gesichtszüge auch heute noch das gleiche Bild zeichnen.

Sogar auf KC Rebells Single "Neptun", die RAF als Feature-Gast komplett dominiert, steht das Fernweh noch im Mittelpunkt. Und er bleibt immer noch der Mann, dessen Sehnsucht nach der Ferne nicht gestillt werden kann. Nun steht ihm die ganze Welt offen, aber der Planet ist zu klein geworden. Man kann sich ausmalen, wie gut auch hier Zeilen aus "Kranich" den Song ergänzt hätten, wenn er nicht für KCs EP gepickt worden wäre.

Von schwarzen Raben und Dämonen

An diesem Punkt sollte klar sein, dass "Therapie nach dem Album" ein Release ist, das man als RAF-Fan kennen muss. Dabei haben wir den wichtigsten Track noch gar nicht in den Fokus gerückt. Wer "Schwarzer Rabe" kennt, wird zustimmend mit dem Kopf nicken. Wer den Song nicht kennt, kann schon mal das Emoji mit der explodieren Schädeldecke in die Zwischenablage packen.

Die schwarzen Raben krächzen aus jeder Ecke der Alben von RAF. Sie sind mehr als ein Gimmick – sie sind eine Erinnerung, eine Warnung an sich selbst. Sie symbolisieren das Böse, die Verlockung von Geld, Ruhm und Erfolg. Das alles bietet der Rabe RAF in diesem Ausnahme-Storyteller im Austausch gegen seine Seele an, während er grade kurz davor ist, seinem Leben ein Ende zu setzen. Der Rabe steht hier konkret für die Dämonen des Show-Business.

Gemeinsam mit Marc Reis aka Sprachtot (in der Rolle des Raben) wird der Dialog mit diesem symbolträchtigen Raben als Geschichte inszeniert, an deren Ende RAF sich die Kugel gibt. Die Bilder, die den zunächst schillernden Eindrücken vom Leben als gefeierter Star folgen, sind zu viel für ihn. Er lehnt den Ruhm ab und wählt den kürzeren Weg ins Grab.

"Und ich denke nach, sehe Bilder von Cash / Bilder von ausverkauften Hallen, Bilder von Chais / Bilder vom Haus, Mann, dort am Strand / Bilder von Geld, Bilder von Gold ... Platten / Bilder von Managern, Bilder, Bilder von Schmuck, Bilder von Top-Galas / Bilder von Kindern, die mich erkennen in meiner Stadt / Bilder von Fremden, die meiner Schwester nachrennen, scheinbar krank / Bilder von falschen Freunden, die mich Bruder nennen / Bilder, Bilder, die Pläne schmieden, um mich umzubringen / Bilder von Einsamkeit, Bilder von meiner Frau, die mich verlässt / Bilder von meiner alternden Mutter, die mich vermisst / Bilder von 5.000 scheiß Uhren, die sich drehen, mir kommen die Tränen / Bilder der Glock vor meinem Gesicht / Ich drücke ab, Bilder von nichts"

Es kam wie prophezeiht. Der Tod und die Zeit, die uns allen wie feiner Sand durch die Finger rinnt, spielen auch heute noch zentrale Rollen in RAFs Musik. In "Schwarzer Rabe" sind die tickenden Uhren das letzte und damit wohl ausschlaggebende Argument für ihn, um abzudrücken und die Bilder in seinem Kopf loszuwerden.

Der Rabe ist aber nicht nur die Verkörperung der Schattenseite im Musikgeschäft. Er steht für die Dämonen aus der Zukunft und der Vergangenheit. Welche das im Detail sind, kann man zum Teil in den "Traumatisiert"-Tracks hören, deren Analyse an dieser Stelle den Rahmen sprengen würde. Bonez erklärte 2016, durch diesen Song auf RAF aufmerksam geworden zu sein:

Man sagt, jeder hat sein Päckchen zu tragen, und RAFs Paket zog ihn mit all seinem Gewicht immer wieder nach unten. Bis er lernte, damit zu leben. Er hat den Raben zu seinem Verbündeten gemacht und angefangen, seine Dämonen zu schätzen:

"Dämonen hinter mir, ich glaub’, ich brauch’ sie / Sie folgen mir lange schon, ich merke immer mehr, wie sie mir vertraut sind / Auf sie kann ich zähl’n, denn sie zeigen mir, wer ich bin" ("Dämonen", 2016)

Im Video zu "Palmen aus Plastik" sitzt der schwarze Rabe dann 2016 in aller Ruhe auf RAFs Arm, als hätte er ihn endgültig gezähmt und die Kontrolle über ihn gewonnen. Spätestens hier verwischen die Grenzen dessen, was exakt der Rabe repräsentiert. Die Metapher hat über die Jahre eine eigene Dynamik entwickelt. Sie ist nicht mehr wie 2010 nur ein Mittel, um Inhalt zu transportieren, sondern sie ist selbst zum Inhalt geworden. RAF hat den einstigen Verführer selbst um den Finger gewickelt und das Rap Game kontrolliert. Bilder von ausverkauften Hallen, Bilder von Diamantplatten, Bilder von Top-Galas.

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