Ich verstehe kein Wort Französisch, aber PNLs "Deux frères" ist unkopierbar gut

Nieeeee im Leben werde ich dieses verdammte Latinum brauchen, für das ich mich jahrelang mit Quintus, Tacitus, dem Ablativ und nd-Formen herumgeschlagen habe. Ich weiß nicht mal mehr, was der Ablativ und nd-Formen überhaupt waren. Stattdessen sitze ich heute vor einem der besten Alben 2019 und ärgere mich blau, weiß und rot.

Tarik und Nabil Andrieu haben mit der Single "Au DD" und ihrem dritten Studioalbum "Deux frères" (franz.: zwei Brüder) am 22. März keinen Hype-Train gestartet, sondern ein Raumschiff, das mit x-facher Schwerkraft in andere Sphären unterwegs ist, um nach den außerirdischen Dragon Balls zu suchen. Schon mit den Vorgängern, insbesondere "Dans la légende" (2016), haben NOS und Ademo aka PNL einen eigenen Sound geprägt, der auch deutschsprachigen Rap infiltriert hat. Mit dem neuen Werk, das letzten Freitag erschienen ist, beweisen die beiden aber, dass sie unkopierbar sind.

PNLs schweben mit "Deux frères" über dem Rest

PNL spielen nach ihren eigenen Regeln und lassen sich von den schnelllebigen Musikwelt nicht beeindrucken. Obwohl diese seit "Dans la légende" nochmal ordentlich an Geschwindigkeit zugelegt und Streaming endgültig die CD abgelöst hat, lassen die Brüder sich über zweieinhalb Jahre Zeit für den Nachfolger. In der gleichen Zeit hat Capi vier Alben und drei EPs veröffentlicht – mit "CB6" werden es am Freitag fünf Alben sein.

Auch ein Blick auf "PVNCHLNRS", Spotifys französisches Äquivalent zu "Modus Mio", zeigt, dass das Duo nach eigenen Regeln spielt. Dort sind aktuell die Songs "Au DD" und "Deux frères" platziert: Mit jeweils 4:07 Minuten sind sie länger als 90 % der Einträge in der Playlist. Auf dem Album sind zehn der 16 Songs sogar noch länger als die beiden "PVNCHLNRS"-Entrys. Dennoch zählte "Deux frères" nach drei Tagen bereits 75.000 verkaufte Einheiten, zu denen auch 45.000 physische Einheiten gehörten – Gold hatte das Album damit bereits in der Tasche. Das sind natürlich nur Zahlen. Zahlen jedoch, die zeigen, wer hier die Spielregeln vorgibt.

Dass sie anders sind, ist der Markenkern von PNL. Ihre mysteriöse Selbstinszenierung ohne Interviews hat längst auch in Deutschland Schule gemacht, auch wenn die neuen Stars unserer Szene durch Insta-Stories und ähnliches deutlich nahbarer sind als die Brüder aus der Pariser Banlieue. NOS und Ademo sind woanders. Immer noch Traphouse, und dennoch unerreichbar an der Spitze des Eiffelturms. Die Gegensätze der vergangenen und aktuellen Lebensrealität der beiden wurden im Video zu "Au DD" mehr als eindrucksvoll in Szene gesetzt.

Mehr Kid Cudi & James Blake als Booba oder Niska

Der Erfolg von zuletzt drei Nummer-1-Singles in Folge und das Vertrauen in das eigene Schaffen haben ihre Grundlage und Berechtigung der Musik. Mit ihr wird alles gesagt und deshalb sind Interviews unnötig, so die These. Und hier kommt meine Fehlentscheidung vor der siebten Klasse ins Spiel. Wenn ich etwas auf "Deux frères" verstanden habe, dann sind es keine Wort, mit der einen oder anderen Beleidigung als Ausnahme. Es sind Emotionen, die auch ohne Worte auskommen.

Ähnlich wie Kid Cudi können die Jungs von PNL Sehnsucht, Wut, Optimismus oder Trauer in einzelnen Silben, Adlibs und lang gezogenen Vokalen für jedermann verständlich verpacken. Der Flow ist weder nur das Transportmittel für die Lyrics noch nur Selbstzweck, sondern er trägt selbst Bedeutung wie bei guten Sängern und Sängerinnen. Damit stehen PNL sinnbildlich für Raps Status Quo 2019 als die Musikrichtung der Gegenwart. Die größten Rapper haben gleichzeitig den Anspruch, die größten Musiker des Landes zu sein. PNL sind in manchen Momenten näher an James Blake und Christine and the Queens als an Booba, Niska oder SCH.

Dazu braucht es künstlerischen Mut, eine Eigenschaft, die bei den meisten mit steigendem kommerziellen Erfolg immer weiter in den Hintergrund rückt. Auch NOS und Ademo verlassen sich streckenweise auf die Stärken ihrer vergangenen Alben und befördern den Hörer in einen schwerelosen Raum, in dem nichts als Musik zu existieren scheint. Für die Instrumentals sind neben den Brüdern wie schon bei "Dans la légende" wieder Nk.F, BBP, MKSB, Yann Dakta und Rednose zuständig gewesen. Eine neue und wichtige Rolle hat außerdem Joa von den Trackbastardz eingenommen, der gemeinsam mit Nk.F für viele Highlights der Platte gesorgt hat ("Au DD", "Hasta la vista", "Shenmue", "Menace", "Déconnecté").

"Deux frères" fesselt von Anfang an und wer dran bleibt, wird immer wieder mit Details belohnt, die nicht vorauszusehen waren. Ein arabeskes Streicher-Sample bei "Hasta la vista", Alien-Sounds à la Sikk in "Cœurs", überraschend euphorische Adlibs in "Shenmue" und "Menace" oder der schlichtweg unfassbare Song "Déconntecté", der straight aus dem Jahr 3019 geleakt wurde. Es sind die Feinheiten, die dem Hörer mehr geben als eine austauschbare Ohrwurmmelodie. Man kann sich – vorausgesetzt, die Anlage erreicht ein gewisses Qualitätslevel – mit Freunden vor die Boxen setzen und gemeinsam auf eine Erkundungstour durch dieses Album gehen. Man kann vielleicht versuchen, diesen Sound und den Film zu kopieren, aber den Versuchen wird nie die gleiche musikalische und emotionale Energie innewohnen wie dem Original.

PNL sind alles andere als playlist-konform und trotzdem werden sie länger in meiner Playlist bleiben als vermutlich 98 % der Songs, die dieses Jahr schon erschienen sind, und 98 % der Songs, die ich verstehe. Bei deutschen Rappern wäre es mir oft lieber, ich hätte keinen Plan, worüber sie da sprechen.

Vielleicht klemme ich mich auch irgendwann vor Genius und baue mir aus einem von Google Translate erzeugten Wortsalat etwas zusammen, das der Bedeutung der Lyrics nahekommt. Traurig, verzweifelt, zweifelnd und zerissen soll es sein, voller 90er-Referenzen, nicht glorifizierend, sehr introvertiert. Wie gerne ich mich selbst davon überzeugen würden, dass "Deux frères" nicht nur musikalisch zu den besten Platten 2019 gehört – stattdessen habe ich das Latinum mit dem praktischen Nutzen einer Siegerurkunde von den Bundesjugenspielen. Selber schuld.

Artikelbild: Mit freundlicher Genehmigung von Stéphanie Macaigne (@s_tph.mcg), Visual Artist, Paris

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