"Man muss immer mehr wagen, auch wenn man sich dabei das Genick bricht", riet Pablo Picasso, einer der wichtigsten Künstler aller Zeiten, sich selbst. 1973 verstarb Picasso irgendwo in Frankreich, seine Werke hängen bis heute in Museen auf der ganzen Welt, gehören zu den bahnbrechendsten Schöpfungen des 20. Jahrhunderts. 1955 zeichnet er Les Femmes d'Alger, Jahrzehnte später zahlt jemand 180 Millionen Dollar dafür.
Um mickrige vier Jahre verpasste Kanye West den großen Picasso. Zeitgenossen sind sie nicht, Gemeinsamkeiten besitzen sie trotzdem eine Menge. So hätte sich auch Kanye fast das Genick dabei gebrochen, ein nie zuvor gesehenes Kunststück möglich zu machen. Mit der simultanen Fertigstellung der dritten Yeezy-Kollektion und seinem siebten Soloalbum war Ye offenbar ein wenig überfordert. Zusätzlich erfüllte er sich um jedem Preis den Traum, beides in der weltbekanntesten Arena zu präsentieren. Dass dabei kaum etwas perfekt lief, konnte West laut Picasso herzlich egal sein. Welcher Musiker kann von sich behaupten, er habe den Madison Square Garden mittags an einem Wochentag ausverkauft, um von seinem uralten MacBook halb-fertige Songs abzuspielen?
Etwa 48 Stunden lang wurde nach dem Spektakel noch weiter am Album geschraubt, die Tracklist erweitert, Arrangements umgeschoben und schließlich per erstligareifer Social-Media-Inszenierung von Kanyes rechter Hand Mike Dean gemastert. Selbst nach exklusivem TIDAL-Release ist Ye noch nicht zufrieden mit Pablo und kündigte auf Twitter weitere Änderungen an seinem bereits veröffentlichten Album an. Vollkommen unbeirrt von Abgabeterminen oder sonstigem burökratischen Larifari. Er macht einfach weiter. "Ein Werk zu beenden? Was für ein Unsinn! Etwas zu beenden heißt, damit fertig zu sein, es zu töten, seine Seele zu entsorgen. Das ist der Gnadenstoß für das Werk und den Künstler" – die Worte von Picasso.
KANYE WEST on Twitter
First thing is I'm an artist and as an artist I will express how I feel with no censorship
Das Ergebnis ist ein Kaleidoskop musikalischer Faszination. The Life Of Pablo umfasst alle Facetten, die Kanye West in seiner Karriere durchlaufen hat. Das Karussell dreht sich um Elemente aus seiner samplelastigen College Dropout-Zeit, unterlegt mit atmosphärischen Heartbreak-Sounds. Es stürzt in die Yeezus-Höhle und bietet glänzende My Beautiful Dark Twisted Fantasy-Pop-Momente. All das auf einem schwindelerregenden Produktionslevel.
Es fühlt sich so an, als sei Pablo die letzte große Show, bevor West sich endgültig kopfüber in andere Gewässer stürzt. Ob als US-Präsident oder Chefdesigner bei Hèrmes: Monumentalere Aufgaben scheinen nach ihm zu rufen. Zur vorläufigen Derniere trommelt Kanye für ein möglichst beeindruckendes Gesamtwerk jede Unterstützung zusammen. Seine Featuregäste benutzt er als Werkzeug um die Stimmung zu feinjustieren, Künstler mit Weltformat erscheinen lediglich für Sekundenbruchteile bevor sie wieder verschwinden. André 3000 – einer der besten Lyriker aller Zeiten – leiht 30 Hours bloß seine Hintergrundvocals.
Dass die großen Featurenamen auf dem Album – Rihanna, The Weeknd, Frank Ocean, Young Thug, Kid Cudi, Ty Dolla $ign – allesamt Musiker sind, die Kanye West erheblich beeinflusst und in ihrer Entwicklung geformt hat, spricht Bände über seine Wichtigkeit. Und über seine bescheidene Maxime, das Endprodukt seinem Ego vorzuziehen. Chance The Rapper, ein 22-jähriger Newcomer aus Wests Heimatstadt Chicago, hat bisher kein Studioalbum vorzuweisen, darf aber die große Bühne auf dem ohnehin schon atemberaubenden Intro betreten – und stiehlt die Show. Ähnlich wie damals, als eine junge Nicki Minaj den besten Verse auf My Beautiful Dark Twisted Fantasy ablieferte. "Ich habe so viel Zeit in die Produktion von Fantasy gesteckt und bis heute sagen mir Leute, dass ihnen die Nicki-Strophe am besten gefallen hat. Aber ich kann nicht zulassen, dass mir mein Ego im Weg steht. Ich konnte ihren Verse nicht vom Album nehmen", sagte West damals. Er würde heute das Gleiche über Ultralight Beam sagen.
KANYE WEST on Twitter
I made Dark Fantasy and Watch the Throne in one year and wasn't nominated for either ... I will have over 100 Grammys before I die.
Wenn nach etwa einer Dreiviertelstunde der essenzielle Teil des Albums um ist, muss man durchschnaufen. Pablo ist eine Achterbahnfahrt mit theatralischen Tief- und Höhepunkten, wirkt fast wie eine manische Depression im Zeitraffer. Auf einigen Songs (Ultralight Beam, Father Stretch My Hands Pt. 1, Highlights) wird dem Leben mit offenen Armen gehuldigt, mit anderen (Pt. 2, FML, Wolves) trifft West auf dem harten Boden einer Realität auf, die für ihn nach wie vor existiert: Seit einigen Jahren leidet der Ausnahmekünstler unter depressiven Zuständen, vermutlich seit dem Tod seiner Mutter. Auf FML spricht er explizit von seinen Entzugserscheinungen des Antidepressivas Lexapro und Streitigkeiten mit seiner Ehefrau Kim Kardashian.
Neben seinen sechs bisher mit Sorgfalt konzipierten und durchdachten Alben wirkt The Life Of Pablo wie ein Ausgestoßener. Es folgt keinem konsequenten roten Faden, dann aber wiederum doch. Es pendelt von Kanye West, dem Wahnsinnigen, zu Kanye West, dem Genie. Und wieder zurück. Die New York Times spricht von "Tumblr als Album". Pablo beschränkt sich nicht nur auf eine Facette und ist aufgrund seiner überwältigenden Mannigfaltigkeit das lebensechteste West-Werk. An diesem Punkt seiner Karriere muss Kanye West sich ohnehin nur noch mit sich selbst messen. Sein makelloser Katalog ist zur Blaupause der modernen Popmusik geworden. Jeder seiner sogenannten Konkurrenten stammt von ihm ab.
KANYE WEST on Twitter
This is not album of the year. This is album of the life.
"Ich betrachte die Alben aller Künstler, die ich beeinflusst habe, als Ausdehnung meiner Werke", sagt er. Während die Charts also von seinen verlängerten Armen dominiert werden, kann sich Ye erneut darauf konzentrieren, innovative Impulse zu setzen. Drei Jahre hat es in etwa gebraucht, bis Pablo fertig wird. Das Endergebnis ist phänomenal, beeindruckend. Das Album ist so präzise und detailliert produziert wie kaum ein anderes Stück Musik auf dem Markt. Dafür steckt Kanye in textlicher Hinsicht deutlich zurück, rutscht wie einst Picasso – Expressionist vor dem Herrn – von gefühlvollen Klageliedern in taktlose Vulgärlaune. Das Erschreckende: Oft macht es sogar Sinn, ästhetisch ohnehin immer. Zwischendurch streut er sogar Desiigners Hit Panda in seinen eigenen Song ein. Es gibt nichts, was es auf Pablo nicht gibt. Je weiter man das Kaleidoskop dreht, man entdeckt stets neue Eindrücke.
Zum Finale beschenkt Kanye West sich selbst mit Fade, dem perfekten Runway-Song. Könnte in Zukunft nützlich sein. Als Präsident aber eher weniger.