Sibylle Bergs Roman "GRM Brainf*ck" ist roher als Grime selbst

Sibylle Berg hat in ihrer Karriere schon eine ganze Menge geschrieben – ein Roman mit direktem Bezug zu Rap war bisher nicht dabei. Der Titel ihres neuesten Werkes "GRM Brainf*ck" bedient sich bei der im UK verbreiteten Stilrichtung Grime. Leser des Romans werden jedoch schnell feststellen, dass die Musik als solche nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dass bei "GRM Brainf*ck" der Grime trotzdem aus jeder Seite quillt, hat andere Gründe.

Eine Welt, in der das Leben wehtut



Grime transportiert rohe Energie und macht den Dreck der Großstadt spürbar. Dreckig geht es auch den vier Teenagern Don, Hannah, Karen und Peter. Die Clique von Heranwachsenden verbindet, dass ihnen Dinge widerfahren sind, die mitunter abseits der Vorstellungskraft liegen. Sibylle Berg erzählt davon ohne jegliche Filter. Vergewaltigung, Misshandlung, Zwangsprostitution – diese Kinder haben alles gesehen und zum Teil am eigenen Leib erfahren. Erschüttern kann sie nichts mehr.

Das Leben im kleinen englischen Ort Rochdale bietet alle Facetten sozialer Verwahrlosung. In London läuft es nicht viel anders. Auch in der englischen Metropole finden die Kids nur an sich selbst Halt. Sie bilden eine Art Familie und hausen in einer leerstehenden Fabrikhalle. Ansonsten regiert die große Langeweile in einer übersättigten Welt, in der zwar jeder ein Grundeinkommen bezieht, aber durch implantierte Chips einem Überwachungsstaat ausgeliefert ist. Alle Protagonisten eint, dass sie auf der Suche nach einem Gefühl sind. Es gibt niemanden, der nicht so abgestumpft ist, dass selbst Terroranschläge nur noch ein Achselzucken hervorrufen.

T.Roadz in leerstehender Fabrik
T.Roadz in leerstehender Fabrik


Wie "Black Mirror" – nur noch drastischer



"GRM Brainf*ck" ist so, als würden sich viele Folgen der britischen Serie "Black Mirror" ineinander verkeilen und dann zu einem ultimativen Bedrohungsszenario anwachsen. Einige Elemente des Buches sind jedoch schon Teil unserer Realität. In Rochdale ereignete sich tatsächlich ein Missbrauchsskandal . Der Brand eines Hochhauses mit Sozialwohnungen in London entstammt ebenfalls nicht der Fantasie der Autorin. Ausufernde Überwachung und eine immer größere Schere zwischen Arm und Reich sind ebenso keine Hirngespinste.

Der Brexit ist im Roman schon lange Geschichte, die einst gehypten Kryptowährungen inzwischen verstaatlicht und selbst künstliche Intelligenz in der Gesellschaft verwurzelt. Es entsteht eine Welt, die sich entlang von Algorithmen aufspannt. Kinder und Erwachsene agieren als Sklaven ihrer Smartphones. Männer haben es durchgesetzt, als das höherwertige Geschlecht angesehen zu werden. Ein Penis ist mehr wert als kluge Gedanken aus dem Kopf einer Frau. Diese verhalten sich s*xuell unterwürfig und eifern den Models aus Grime-Videos nach. Hoffnungs- und Trostlosigkeit ruft der Roman zum Normalzustand aus.

Sibylle Berg & T.Roadz in Fabrik
Sibylle Berg & T.Roadz in Fabrik


Der Grime liegt zwischen den Zeilen



Womit wir auch beim Grime wären. Der Straßenrap aus dem UK hilft vor allem, die Atmosphäre zu verdichten. Die Musik stellt Sibylle Berg als etwas vor, das der Wut der Jugendlichen zunächst Ausdruck verleihen kann. Bekannte Namen der Grime-Szene wie Stormzy, Devlin oder Skepta finden im Roman Erwähnung, aber dienen mehr der bloßen Verdichtung als einer kulturellen Vertiefung. Hiphop als Antihaltung, Einstellung und Lebensgefühl läuft nebenher. Es ist die Art des Sprechens, das Dagegensein und nicht zuletzt der Wunsch, aus den bestehenden Verhältnissen zu entkommen.

Grime ist ein Multiplikator für die brodelnde Wut, die den Text trägt. Der Roman ist schnell, ungezügelt, brutal und schmutzig. "GRM Brainf*ck" ist damit durch und durch Grime, ohne wirklich von Grime zu handeln. Nicht umsonst sind mit T.Roadz und Membern der Ruff Sqwad auch Genrevertreter auf der Lesetour dabei. Die Energie und Wucht von Grime muss der Text nicht selbst erklären, weil die mehr als 600 Seiten genau das transportieren, was Grime ausmacht.

Ein durchaus real existierendes Phänomen legt Sibylle Berg doch noch offen. Die Revolution, die von der Protestmusik Grime getragen werden könnte, findet nicht statt. Die schleichende Erstickung des wütenden Sounds geht dafür voran. Die ursprüngliche Härte und Sozialkritik weichen einer Kommerzialisierung und Markenfixiertheit. Hier lassen sich durchaus Parallelen zu der gegenwärtigen Entwicklung in Deutschrap ziehen. Die Abgrenzung durch Grime und Rap ist irgendwann kein Faktor mehr. Kendrick Lamar aus Übersee bietet den Teenagern zu schwere Kost. Dessen Musik sei nicht zum Mitsingen geeignet – und so verkümmert die Menschheit zum stummen Zeugen ihres eigenen Niedergangs.

Sibylle Berg spitzt hier urbanes Leben so weit zu, bis es fast körperlich schmerzt. Sie schreibt schonungslos über ein England, in dem es ausschließlich roh, düster und gewalttätig zugeht. Um diesen Spirit einzufangen, eignet sich Grime hervorragend - als Metapher, als Kulisse, als prägnantes Wort für einen Zustand - letztendlich aber auch als Ausdruck für ein Leben, dem das Menschliche entglitten ist.
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