Graffiti ist immer politisch & "Pixadores" zeigt auf eindrucksvolle Art, wieso

Wir haben uns "Pixadores" im Kino angesehen. Derjenige, der das ermöglicht hat, bezeichnet "Pixadores" als den besten Graffiti-Film, den er je gesehen hat. Tom von Rotzfrech Cinema steht damit nicht allein da. Die Begeisterung und Liebe geht so weit, dass er sich für diese einmalige Kinotour sogar verschuldet hat. Aber er war von Anfang an zuversichtlich: Seine Subkultur habe ihn noch nie enttäuscht.

Was ist "Pixadores"?

Ein Dokmentarfilm, vor allem aber etwas Besonderes: Amir Arsames Escandari hat drei Jahre in São Paulo gelebt und eine Gruppe junger Männer aus den Favelas begleitet. Ohne überhaupt die Sprache zu beherrschen, gewann er ihr Vertrauen. Einfach dadurch, dass er haufenweise illegale Aktionen mit ihnen durchzog.

Das Ergebnis dieser Aktionen war jedes Mal Pixação. Aber nicht nur: In den drei Jahren ist auch der Film "Pixadores" entstanden. Ein hautnahes, hochemotionales und berührendes Portrait der Pixação-Maler Djan, William, Biscoito und Ricardo – und gleichzeitig ein flammendes Plädoyer für Kunstfreiheit und Protestkultur.

Was ist Pixação?

Pixação ist im Endeffekt eine Art Graffiti aus Brasilien, die unter anderem maßgeblich die Berlin Kidz inspiriert hat. Diese spezielle Graffiti-Spielart ist mehr oder weniger einzigartig für die Städte Brasiliens. Die Stile unterscheiden sich von Ort zu Ort, haben aber oft viel Gemeinsamkeiten.

Sie zieren das gesamte Stadtbild von São Paulo oder Rio, auch wenn die Obrigkeit mit aller Härte dagegen vorgeht. In Brasilien weht dahingehend nicht erst seit dem letzten Wahlergebnis ein anderer Wind als zum Beispiel in Deutschland.

Die Pixadores werden von der Polizei gar nicht immer verhaftet. Stattdessen aber regelmäßig verprügelt oder mit Farbe übergossen. Es gibt Berichte, dass sie von Polizisten gezwungen wurden, Farbe zu trinken. Manche Maler wurden bei Fluchtversuchen sogar erschossen. Das war schon vor der Fußball-WM in Brasilien so, vor Olympia und vor der Wahl Bolsonaros. Seitdem ist es mit Sicherheit nicht besser geworden.

In Brasilien weht generell ein anderer Wind, die Lebensrealitäten sind völlig andere: Die Pixadores seilen sich nicht ab. Sie klettern ohne Sicherung, zum Teil in Flipflops und kurzen Hosen an der Fassade eines 29-stöckigen Gebäudes hoch.

Der Film zeigt in den haarsträubendsten Szenen, wie die Pixadores beim Klettern von oben attackiert werden. Es ist ein ganz besonderer Überlebenskampf:. Manche von ihnen können weder lesen noch schreiben, aber beherrschen Pixação.

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Wie die Graffiti-Bewegung entstanden ist

Pixadores – also die Pixação-Maler – bezeichnen Pixação eher als Protestbewegung und verstehen das Ganze nicht unbedingt als Kunst. Allerdings erklären sie, dass bei der Entwicklung der einzelnen Schriftzeichen durchaus ein elaborierter, künstlerischer Prozess vonstatten geht.

Seit den 1980er Jahren gibt es Pixação in São Paulo, aber die Wurzeln reichen noch tiefer in die Vergangenheit: Die Ursprünge liegen in den Protest-Parolen gegen die Militärdiktatur Brasiliens, die schon in den frühen 1960ern an die Wände gemalt wurden.

Dann kamen Punk und Heavy Metal, die Pixação ebenfalls inspirierten. Zum Beispiel der Iron Maiden-Schriftzug mit seinen ganz besonders geformten Buchstaben: Aus den speziellen Schriftarten hat sich mit der Zeit ein ganzes Alphabet entwickelt.

Da die Logos der Metalbands wiederum zum Teil auf angelsächsischen und germanischen Runen beruhen, geht die Tradition des Pixação im Grunde also sogar noch viel weiter zurück.

Zwischenzeitlich wurde es zur Eigenwerbung genutzt und mittlerweile ist es natürlich auch mit der Gangkultur Brasiliens verwoben.

PIXO

Documentário Longa Metragem PIXO 2010 English Subtitles a film by João Wainer and Roberto T. Oliveira

Ist Pixação überhaupt Graffiti?

Da scheiden sich natürlich die Geister. Im Endeffekt bleibt es wohl eine Definitions- und Geschmacksfrage. Viele Pixadores würden die Frage, ob Pixação Graffiti ist, verneinen.

Ihnen zufolge sei Graffiti zu kommerziell und werde in erster Linie gemacht beziehungsweise benutzt, um Geld zu verdienen. Was natürlich immer davon abhängt, wo, wie und in welchem Umfeld Graffiti entsteht.

Bezeichnenderweise drehen die Pixadores im gleichnamigen Film auch einen Werbespot für Puma:

ASOS Puma 'Pixadores'

This is "ASOS Puma 'Pixadores'" by Ben Newman on Vimeo, the home for high quality videos and the people who love them.

Womit wir uns schon dem eigentlichen Thema und der zentralen Frage dieses Artikels widmen: Inwiefern kann oder muss Graffiti politisch sein?

Die Diskussion beschäftigt unzählige Writer, Polizisten und Kunstkritiker überall auf der Welt: Zum Beispiel, wenn es um Banksy und millionenschwere Kunstdeals geht.

Oder um Streetart, legales Graffiti in Museen oder Entwicklungen wie Obey, der mittlerweile zur Modemarke geworden ist. Ist das Vandalismus, Protestkultur, Kommerz oder Kunst? So wird auch legales Graffiti automatisch zum Politikum.

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Wählen wir die breitgefasste Definition von Graffiti, fällt Pixação definitiv darunter. Und dass Pixação nicht ohne Protest funktioniert, wird spätestens beim Ansehen von "Pixadores" überdeutlich.

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Worum geht's in "Pixadores"?

Cripta Djan, William, Biscoito und Ricardo sind Pixadores und malen dementsprechend Pixação. Für die meisten von ihnen ist es der Haupt-Lebensinhalt. Ansonsten müssen sie sich mit Gelegenheitsjobs, Kabeldiebstahl oder Drogendealerei über Wasser halten.

Aber Pixação  bietet ihnen gleichzeitig die Hoffnung, eines Tages ein eigenes kleines Haus zu bauen – auf eigenen Füßen zu stehen und mit den anderen illegalen Aktivitäten abseits der Malerei aufhören zu können: Ihre Familie und sich selbst ernähren zu können.

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Uploaded by Hatti Watti on 2013-11-04.

Dieser Traum rückt in greifbare Nähe, als die Männer zur Biennale in Berlin eingeladen werden. Was sich gleichzeitig als Herausforderung entpuppt, wenn man keinerlei Papiere besitzt.

Die Lebensrealitäten machen ihnen fast einen Strich durch die Rechnung: Echte Ausweisdokumente sind offenbar teurer als gefälschte und gehen in Brasilien unter anderem mit der Wehrpflicht einher.

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Uploaded by Hatti Watti on 2013-11-04.

Irgendwann landen die vier Pixadores dann aber doch noch in Berlin. Dort angekommen, sehen sie die Hauptstadt aus ihrer eigenen Perspektive:

"Die Einheimischen können es nur horizontal und am Boden", bemerken sie angesichts der Hauptstadt-Graffitis unter allgemeinem Gelächter.

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Das Berliner Graffiti- und Trainsurfing-Kollektiv hat sich auf Aktionen spezialisiert, die sich sonst niemand traut: Sie seilen sich zum Beispiel von Häuserdächern ab, um auch die unmöglichsten Stellen zu erreichen.

Das hat sich mittlerweile vor allem dank der Berlin Kidz und ihrer Absei-Aktionen geändert. Woran Djan, William, Biscoito und Ricardo nicht ganz unschuldig sein dürften. Im Gegenteil.

Aber der Knackpunkt kommt erst noch: Im Rahmen der Biennale 2010 wurden in der St.-Elisabeth-Kirche Leinwände aufgestellt. Dort sollten die Pixadores ihre Kunst zur Schau stellen. 

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Wieso ist Graffiti immer politisch?

An einer deratigen Zurschaustellung ("wie Tiere im Zoo oder Zirkus") hatten Biscoito, Ricardo, William und Cripta Djan aber nicht das gernigste Interesse. Sie wurden schließlich eingeladen, um Pixação zu zeigen.

Und Pixação funktioniert nun mal nicht an Orten, wo es erlaubt ist. Pixação ist immer auch Protest und fragt nicht nach Erlaubnis.

Also haben die Pixadores kurzerhand die Wände der Kirche erklettert und angefangen, dort zu malen, wo sie es für richtig hielten. Was folgte, war ein Eklat und riesiger Skandal, die Veranstalter gerieten in Panik.

Immerhin steht die Kirche unter Denkmalschutz. Aber Biscoito, Ricardo, Willliam und Djan gaben den Kunstmenschen, was sie wollten: Pixação. Bis die Polizei kam, was für die Pixadores wiederum ganz normal war.

Darum dreht sich alles bei Pixação, und auch bei jedem illegalen Graffiti: Um Freiheit. Es geht nicht zwingend um die Message, den Inhalt, sondern darum, eben nicht um Erlaubnis zu fragen.

Es ist die Aneignung von Räumen. Sichtbarmachung von Minderheiten. Es geht um Protest, den Konflikt und die damit verbundene Systemkritik, die dem Akt an sich innewohnt. 

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Ricardo und Djan leeren die Plastikflasche mit dem knallroten Ethanol-Erdbeer-Mix. Alkohol und Adrenalin mischen sich in ihren Adern. Zwölf Stockwerke hoch wächst die Bauruine vor ihnen in den Nachthimmel; wenn die Sonne aufgeht, sollen große Lettern daran prangen, ganz oben, so dass man sie weithin lesen kann: CRIPTA. Der Name ihrer Gang.

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