Wenn Deutschrap wirklich fresher denn je ist: Wer hat Mut zu Experimenten?

Es mag auf den ersten Blick ironisch wirken, wenn gerade ein Mann wie Xatar gegen den mangelnden Mut im Deutschrap rantet, eine eigene Soundästhetik zu finden. Der Bonner hat mit seinem Label Groove Attack Trax schließlich maßgeblichen Anteil an der neuen Generation im Deutschrap um Mero oder Sero El Mero. Und damit an einem Sound, den kritische Stimmen mitunter als genau die Kopie von internationalen Rapstandards bezeichnen, gegen die Xatar sich in seinem Tweet stellt – auch wenn sich diese Artists ja über ihre durchaus neue Kombination von Trap mit arabesken und orientalischen Einflüssen auszeichnen, die so international kaum zu finden ist.

Dass der Baba aller Babas sich selbst dazuzählt, wie er in einem folgenden Posting deutlich machte, ist noch nicht einmal entscheidend – denn was Xatar hier anspricht, geht einer tiefergehenden Tendenz des Deutschraps auf den Grund. Selten wird sich getraut, einen wirklich einzigartigen Sound anzubieten. Es ist bequemer, sichere Häfen wie Atlanta, London oder Paris anzusteuern. Aber welche Rapper*innen zeichnen sich hierzulande wirklich für den Mut aus, aus der Blase bereits x-fach gehörter Melodien und Flows auszubrechen und einen radikal anderen Weg zu gehen? In den USA gibt es mit Artists wie Vince Staples, Denzel Curry, JPEGMAFIA oder Death Grips nahezu selbstständige Mini-Szenen an alternativem und – gerade deswegen – populärem Rap. Diesen Acts stehen nicht weniger experimentelle Größen wie Kanye West oder Tyler The Creator im Mainstream gegenüber.

Und auch in Deutschland gibt es eine unüberschaubare Menge an hochkarätigem alternativem Hiphop und Underground Rap. Es kommt jedoch nur selten vor, dass diese alternative Bubble verlassen wird. So hat der Berliner HAXAN mit fiebrig-verzerrten Screamo-Rap und Musikvideo-Trips seit 2019 bereits einige Perlen veröffentlicht. Der musikalische Weitblick ist hier vorprogrammiert: Der Rapper singt auch in der Metalcore-Band Kora Winter.

HAXAN – "Stre$$"

Ein ähnliches, wenn auch zugänglicheres Soundbild zeigt häufig Dissy. Auf seinem in diesem Jahr abgeschlossenen "bugtape" vermischen sich Einflüsse aus unterschiedlichsten Genres und Ecken der Welt mit interessanten Lyrics zu etwas, das immer kreativ und nie abgekupfert wirkt. Welche Zutaten genau er in den Topf schmeißt, kann man in unserem Interview nachlesen.

Dissy – "lauf!" feat. Luvre47

Wer bei experimentellem Hiphop der letzten Jahre niemals unerwähnt bleiben darf, ist OG Keemo. Der Mannheimer konnte seit seiner Unterschrift bei Chimperator 2017 bereits mit zwei EPs und einem Album so einige Szene-Herzen für sich gewinnen, bevor 2019 mit "Geist" der ganz große Knall folgte: Lyrischer Deutschrap auf eigenem Niveau, knallharte Straßen-Attitüde und der dystopische Instrumental-Albtraum aus modifizierten Jazz-Samples und Trap-Anleihen von Produzent Funkvater Frank, der für Keemo seine ganz eigene Beat-Hölle baut.

Die Musik atmet mit ihrem Fokus auf Samples und Lyrics zwar einerseits sehr klassische Hiphop-Werte, spricht mit ihrem eher Liebhaber*innen zugänglichen Soundgebräu aber eine sehr neue und unkonventionelle Klangsprache. Die dichten, verzerrten Noise-Arrangements, die selten lineare Songstruktur sowie das verstörende Musikvideo von Keemos "216" zeugen von einer riesigen Innovationsfreude – und einer Art von Hiphop, für die es wohl auch international wenig Vergleichbares gibt.

Mittlerweile steht mit "Mann beisst Hund" ein neues Projekt vor der Tür, das ganz bewusst einen anderen Weg zu gehen scheint. Das Duo verzichtet augenscheinlich darauf, die bereits unter Beweis gestellten technischen Skills in den Vordergrund zu rücken. Beispielsweise in der zweiten Album-Single "Blanko" mit Kwam.E. Keemo reimt "Sport" auf "Ford", anstatt sich mit Assonanzen und wilden Reimstrukturen aufzuhalten, Franky versenkt seine Zauberfinger noch intensiver als zuvor in kompromissloser 808-Romantik. Hier wird nicht reproduziert, was funktioniert hat, sondern immer ein neuer Schritt gesucht.

OG Keemo – "216"

Dass Rap mit eigenem Soundbild kein Geschrei oder verzerrte 808s braucht, zeigte Kritiker*innenliebling Tua 2019 mit seinem lange erwarteten Album "Tua": Drum'n'Bass-Anleihen auf "Bruder II", Post-Dubstep à la James Blake auf "Tiefblau", Deep House auf dem Hit "Wem mach ich was vor". Ähnliche Orientierung an Club- und Electro-Sounds gab es bereits mit Vince Staples "Big Fish Theory". Tua vereint jedoch eingängige Ohrwurm-Melodien mit Einflüssen aus allen Bereichen der Popmusik und hat sich so neben seiner Tätigkeit bei den Orsons verdient seinen Ruf als Ausnahmekünstler im Hiphop erspielt – ganz ungeachtet seines Mammutalbums "Grau", das für viele als eines der besten Deutschrap-Alben aller Zeiten gilt.

Tua – "Wem mach ich was vor"

Zwar bleiben die meisten frischen Ansätze eher unter der Oberfläche, aber immer wieder bricht eine Idee auch in den Mainstream durch. Casper, Marteria und Cro haben, trotz diverser Chart-Erfolge, immer eigene künstlerische Akzente gesetzt und so einige Alben erschaffen, die in ihrem Sound beispiellos und ambitioniert sind. So erspielte sich Cro mit "tru." 2017 nach Jahren des Radio-Raps eine neue Kredibilität: Nicht nur mit der gelungenen deutschen Version von Südstaaten-Sounds, sondern eben auch mit Klangexperimenten aus Synthie-Arrangements, unübersichtlichen Song-Strukturen und vielschichtigen Produktionen auf "computiful" oder "baum". Sein neues Album "trip" ist zwar weniger progressiv gehalten, spricht mit 80s-Motown und 70er-Psychedelic-Anleihen aber auch seine ganz eigene Sprache.

Cro – "computiful"

Cro – "baum"

Casper und Marteria konnten mit ihrem Kollabo-Album 2018 zwar nicht die gleiche Qualität ihrer Solo-Releases erhalten, diese hatten es aber in sich: Casper katapultierte mit seinem Post-Rock-beeinflussten Durchbruchs-Album "XOXO" Deutschrap schließlich 2011 zurück in den Mainstream. Danach nahm er sich auf "Hinterland" Indie und Folk an, um schließlich auf "Lang lebe der Tod" ein breites Stil-Spektrum von Post-Hardcore bis zu Dubstep-Noten zu bedienen.

Marteria blieb seiner von The Krauts geformten elektronischen Sounds einigermaßen treu, konnte aber mit dem Über-Album "Zum Glück in die Zukunft II", dem aktuellen "Roswell" und neuen Singles wie dem atmosphärischen Club-Abgesang "Paradise Delay" wichtige eigene Akzente setzen. 

Casper – "Lang lebe der Tod"

Marteria – "Paradise Delay"

Ganz Unrecht hatte Xatar natürlich nicht: Deutsche Rap-Künstler*innen könnten durchaus mutiger an ihre Musik herangehen. Er selbst hat auf seinem aktuellen Album "Hrrr" (hier auf Apple Music streamen) ein paar wilde, progressive Ansätze gezeigt. Aber unabhängig persönlicher Geschmäcker hat Deutschrap im Jahr 2021 sowohl im Underground als auch im Mainstream unglaublich viel Neues und Eigenes zu bieten – man muss es nur finden. Atlanta hin oder her.

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