Bietigheim-Bissingen-Overtake: Wie der Neue Süden übernimmt

Der Großraum Stuttgart steht vorwiegend für strenge Polizeikontrollen, die Sparsamkeit der Einheimischen und herzhafte Mahlzeiten. Womit die Metropolregion in Baden-Württemberg jahrelang nicht gerade glänzt, ist zeitgenössischer Rap. Anfang der Neunziger beginnt es noch verheißungsvoll, bevor der  Süden irgendwann in einen hausgemachten Winterschlaf fällt. Von den Fantastischen Vier zur aktuellen Generation Bietigheim-Bissingen ist es eine lange Reise. Das Verblassen und Wiedererstarken des schwäbischen Rap-Ballungszentrums wollen wir uns einmal genauer anschauen.

Die Anfänge

"Ist es die da, die da, die da?" Ja, die Fantastischen Vier sind Rapper und verkaufen weiterhin Arenen aus. Sie sind ganz vorne dabei, als es darum geht, amerikanische Hiphop-Kultur in die Bundesrepublik zu überführen. Das mag manchen aus heutiger Sicht nicht ausreichend Swaggah transportieren, aber dennoch haben Smudo, Thomas D, Michi Beck und And.Ypsilon einen Grundstein für vieles gelegt, was heute aus den Anlagen pumpt. Sie brachten Samples, Scratches und deutschen Sprechgesang massentauglich ins Gehör der Menschen. Wenn "Fremd im eigenen Land" von Advanced Chemistry" den Untergrund-Startschuss von Deutschrap darstellt, dann ist den Fantas mit "Die Da" zum ersten Mal ein erfolgreiches Andocken an ein Mainstream-Publikum gelungen.

Um einiges geschliffener wirken die Tracks, die der Freundeskreis Jahre später unter die Leute bringt. Max Herre, DJ Friction und Don Philippe vermengen Conscious-Rap und freiheitliche Ideale zu einer einzigartigen Mischung, aus der "Die Quadratur des Kreises" und "Esperanto" hervorgehen. Zwei Alben, die reißenden Absatz finden und locker bis in die Gegenwart abstrahlen. Die Crew pflanzt Rap mit Botschaft ins Hirn einer größeren Hörerschaft, die Hiphop noch als relativ jungfräuliches Phänomen wahrnimmt.

Aus der Mitte des Spaßes und der links-orientierten Inhaltslastigkeit treten die Massiven Töne hervor. Ihr Verständnis von Rap deckt beide Extreme gleichermaßen ab. Sie können sowohl spaßige Autofahrmusik für den Sommer produzieren als auch Messages transportieren, die über das reine Representen der eigenen Fähigkeiten am Mikrofon hinausgehen. Eine kollektive Antwort auf Rap in den anderen Großstädten Deutschlands kommt aus dem "Schoß der Kolchose". Der Track, der 1996 auf dem ersten Album der Massiven Töne "Kopfnicker" auftaucht, bündelt nicht nur fast sechs Minuten Rap, sondern ist Ausdruck eines losen Zusammenschlusses diverser Künstler aus dem süddeutschen Raum. Die Kolchose besteht zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre und markiert den Kern einer Szene, die sich pionierhaft der urbanen Kultur widmet. Die Bekanntesten Mitglieder der Künstler-Posse sind die angeklungenen Massiven Töne und Freundeskreis. Ergänzt wird der Verbund unter anderem durch Afrob, Skills en Masse oder die South Side Rockers. Stuttgart steht für etwas und hat passende Gesichter zu einem Wir-Gefühl im Hiphop.

Tod und Auferstehung

Irgendwann klingt die Kolchose-Zeit aus. Der zwischenzeitliche Hype ebbt ab und die Mitglieder zerstreuen sich mehr und mehr. Neben Solo-Veröffentlichungen von Max Herre und vereinzelten Lebenszeichen der Massiven Töne sowie Platten der Fantastischen Vier steht Rap in der Folgezeit der Jahrtausendwende rund um die Landeshauptstadt eher still. Die Musik spielt nun mehr in anderen Zentren und vor allem bei Aggro Berlin. Deutscher Gangstarap beginnt zu wachsen und schießt die familientauglicheren Mcs ins Abseits. Straßenstorys aus dem Zentrum Schwabens bringt zwar Jaysus, der sich als "König im Süden" inszeniert, aber der durchschlagende Erfolg wird ihm nicht zuteil. Die bundesweite Vormachtstellung in Sachen Hiphop existiert in der Form nicht mehr.

Das ändert sich im November 2011. Ein junger Mann mit Pandamaska erscheint auf der Bildfläche und plötzlich tragen hübsche Frauen im Sommer Beanies. Über ein Sample des Songs "Sunny" flowt ein bis dato nahezu unbekannter Rapper so leichtfüßig und eingängig, dass der Karriereweg vorgezeichnet ist. Er nabelt sich von der Historie ab und scheint einfach genau das zu machen, worauf er Bock hat. Hey Kids, es ist Carlo und der bespielt ein Publikum, das nichts mit den Neunzigern am Hut hat. Die positiven Vibes, die niedliche Pandamaskierung, die Melodieführung der Tracks – es fehlte wohl an dieser Lockerheit, um Stuttgart zurück auf die Hiphop-Karte zu setzen.

Abgesehen von Maeckes, der aus künstlerischer Sicht nicht weniger talentiert als Cro erscheint, dringt kaum Sound aus der schwäbischen Millionenstadt nach draußen. Allerdings hat sich das heutige Orsons-Mitglied dem großen Pop seit jeher verweigert. Die Experimentierfreude des Hochbegabten eignet sich kaum, eine komplette Region musikalisch neu auszurichten. Konzeptalben über eine Herrschaft der Kinder ("Kids") oder die musikalische Beziehungsverarbeitung gemeinsam mit der Frischgetrennten ("Kunst über Vernunft") verfolgen mehr künstlerische als charttaugliche Absichten. Das ist alles weit weg von jeglicher Form des Easy Listenings und von einer größeren Öffentlichkeit.

Mit Blick auf die heutigen Protagonisten aus dem Ländle lässt sich sagen, dass Cro nicht nur seinen eigenen Aufstieg eingeleitet hat, sondern rückblickend eine Art Scharnierfunktion zwischen alten und neuen Styles aus dem Süden erfüllt. Der Erfolg des Chimperator-Artists lässt andere Variationen im Rap zu. Der so eindeutige Einschlag in Richtung Pop des Anführers der "Neuen Reimgenerationen" hilft Engstirnigkeit in Bezug auf Rap abzubauen. Einige würden sicher fortan felsenfest behaupten, dass Cro kein Rapper sei. Anhand von "Easy" lässt sich leicht das Gegenteil beweisen. Ein Sample zu picken, daraus einen Beat basteln und Lines zum schließlich selbstproduzierten Instrumental bringen, ist wohl mehr Hiphop, als viele es wahr haben wollen. Wer sich damals über zu viel Melodie aufgeregt hat, der wird in der heutigen Playlist-Ära mit dem Skippen von Tracks kaum noch hinterherkommen. Der "Raop"-Ansatz aus Rap und Pop hat Weichen gestellt und Türen geöffnet.

Der neue Süden



Das kurz beschriebene Revival des Stuttgarter Raums durch Cro manifestiert sich etwa 20 km nördlich von der Landeshauptstadt. In Bietigheim-Bissingen brodelt so etwas wie die neue Kolchose (was laut Duden nicht mehr heißt als "Produktionsgenossenschaft"). Bisher hat es zwar noch keinen größeren Posse-Track gegeben, aber doch ist die regionale Gemeinsamkeit und Bekanntschaft von Bausa, RIN sowie Shindy ein Fakt. Es ist nicht auszuschließen, dass diese verbindende regionale Verwurzelung mal zu einem größeren Kollaboprojekt führt. Wie RIN und Shindy auf einem Track klingen, wissen wir seit dem "Dreams"-Track "Hallelujah":Am schwersten ist es wohl, sich Baui und Shindy auf einem Song vorzustellen, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Erfolg und Trends entspringen in den letzten Jahren auf jedem Fall drei kreativen Köpfen aus einem 40.000 Einwohner-Städtchen.

Die Benchmark für amerikanischen Sound auf Drake-Niveau ist nicht einfach zu knacken. Shindy hat sie trotzdem scheinbar mühelos gepackt. Der Waldorf Astoria-Stammgast setzt unabhängig von einer Zusammenarbeit mit Bushido "Statements".  Seit 2013 und "NWA" sind Fashion, hochwertige Reime und eine übermenschliche Ignoranz eng mit dem Halbgriechen verbunden. Diese Stilistik reicht bis tief in die Gegenwart und macht Shindy zu dem, was man wohl Influencer nennen würde.

Der erste Diamant-Rapper überhaupt entstammt ebenso der schwäbischen Idylle. Bausa hat dabei mit ähnlichen Kommentaren umzugehen, mit denen auch Cro seit jeher leben muss. Sein Mega-Hit "Was du Liebe nennst" sei kein Rap mehr. Wer sich aber das Tape "Powerbausa" oder das Debütalbum "Dreifarbenhaus" anhört oder sogar noch weiter in Bausas Werdegang gräbt, wird erkennen, dass es sich um einen äußerst vielseitigen Künstler handelt. Neben dem so prägnant kratzigen Gesang ist der Ex-Schützling von Capo auch ohne weiteres in der Lage, Bars auszupacken.

Zu diesem Erfolgsduo gesellt sich noch Supreme-Liebhaber RIN. Die Geschwindigkeit beim Durchbruch des Division-Signings sucht ihresgleichen. Seine Live-Konzerte sind schweißtreibende Turn Ups und sein Debütwerk "Eros" gewinnt die 1Live Krone. Die Jugend fühlt den Sound. Nahezu jede gedroppte Single zieht einen Hype sondergleichen nach sich. Der Zustand von Shawtys und das eigene Kaufverhalten an Donnerstagen wandeln sich schnell zu szenetypischen Slang. Die unverkrampfte Musik für und über die "Bros" ist fester Bestandteil eines modeaffinen Publikums und nicht mehr wegzudenken. Die Abgrenzung vom alten Sound stellt RIN dabei offen in "Dontlike" zur Schau:

"Scheiß auf deinen Oldschool, wir sind frisch (so frisch)"

Zusätzlich ist die Attitude, die RIN mitbringt, wohl so etwas wie Marketing-Gold für die Fashionindustrie. Zielgruppengerichtete Musik von einem jungen, authentischen Typen, der sich gewissen Labels quasi verschrieben haben, kann es für die Branche sicher gar nicht genug geben.

Abseits dieser glorreichen Drei kann auch Dardan auf sich aufmerksam machen. Mister Dardy kommt nicht aus dem Randgebiet von Stuttgart, sondern direkt aus der Großstadt. Daher ist es nicht absonderlich, das er weitaus mehr Staßenthemen aufgreift als seine erfolgreichen Kollegen. Selbst im geordneten Stuttgart gibt es sich schließlich Ecken, die ein bisschen kritischer sein können. Mit dieser Attitude bringt er noch einen zusätzlichen Aspekt in das Spektrum der schwäbischen Rap-Renaissance. Die Härte der Straße ist bisher ein relativ vernachlässigtes Themenfeld der Künstler aus dem beschaulichen Bundesland.

Das Aufkommen dieser neuen Jugendidole hat die alten Hasen keineswegs verdrängt. Die Fantastischen Vier releasen auch 2018 weiterhin Alben. Max Herre bespielt weiterhin ein großes Stammpublikum und Jaysus Label "Macht Rap" steht eisern. Teenieschwarm Cro ist zudem ebenso keineswegs von der Bildfläche verschwunden. Auf "Tru" experimentiert er mehr denn je und vertraut nicht auf Charttauglichkeit. Er folgt seiner künstlerischen Vision und macht, wonach er sich fühlt. Fast 20 Jahre sind seit der Hochzeit von Freundeskreis und Co vergangen. Stuttgart spricht kein Esperanto mehr, sondern eine andere Sprache, die sich nicht wirklich anderen inländischen Strömungen angleicht, sondern so eigen wirkt, wie es die Kolchose einst war. Wer etwas über den Status Quo von Deutschrap erfahren möchte, kommt kaum an Stuttgart und seinem Einzugsgebiet vorbei. Hier spielt die Musik, die den Rap von heute prägt.

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