Deutschraps Peter-Pan-Faszination: Was Shindy & Co im Nimmerland suchen

Haben Künstler Probleme mit dem Erwachsenwerden? Bei den vielen Verweisen auf die Geschichte von Peter Pan könnte dieser Verdacht entstehen. Die ewig jugendliche Figur von Autor James Matthew Barrie ist längst zu einer ultimativen Metapher angewachsen, die alle Bereiche der Popkultur durchflutet. Der von ihm geschaffene Protagonist, der in Filmen oder Serien meist mit grüner Kleidung dargestellt wird, scheint eine Wunschvorstellung abzubilden. Einen oft positiv auslegbaren Zustand, der sich mit großer Selbstverständlichkeit für Raptracks eignet.

Radikal verknappt ist Peter Pan ein fliegender Typ, der auf der fiktiven Insel Nimmerland lebt und es hin und wieder mit Piraten zu tun bekommt. Außerdem kann er nicht erwachsen werden und hängt mit seinen Jungs, die als "Lost Boys" auf dem Eiland herumstrolchen. Peter Pan ist also auch die Erzählung einer Gang, ihres Anführers und einer Umwelt, die diesen Lifestyle nicht versteht. Kein Wunder also, dass der Stoff wie eine ideale Projektionsfläche für die Empfindungen eines Rappers wirkt. Fard, Shindy und RIN stehen im Folgenden nur exemplarisch für ein Phänomen, das Michael Jackson zeitlebens zum Umbau einer riesigen Ranch motivierte.

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Fard schwelgt in Kindheitserinnerungen

Ruhrpott-Rapper Fard ist 2010 schon mit "Peter Pan" unterwegs. Sein direkt nach der Figur benannter Track reiht Ereignisse aneinander, die eine erfüllte Kindheit widerspiegeln. Fard war demnach "immer gut gelaunt". Er reflektiert "'ne schöne Zeit", die hinter ihm liegt. Dabei reduziert er die Peter-Pan-Geschichte auf das Kernstück. Es geht um die Fantasie einer ewigen Jugend. Die Schwierigkeiten, denen Peter Pan ebenso ausgesetzt ist, nimmt er bewusst nicht ins Blickfeld. Auch ein Kind blendet gewöhnlich aus, was das Erwachsensein bedeutet. So tauchen bei Fard Momente der Realitätsflucht oder der Sehnsucht nach einer Mutter, die in der Figur Peter Pan angelegt sind, nicht auf. Stattdessen macht das Ende der dritten Strophe unmissverständlich klar, warum er den Track "Peter Pan" genannt hat.

"Ich bin Peter Pan, weil ich für immer Kind bleibe"

Der Song "Traumfängerphase (Mezzanin)" aus dem Jahr 2015 schließt an die komplett positive Deutung an. Auf der "Ego"-Auskopplung lebt Fard seinen "Traum wie Peter Pan". Dieser setzt sich aus den passenden Scheinen in den Taschen und ständigen Autogrammwünschen der Fans zusammen. Indem er seinen vermeintlichen Alltag beschreibt, schildert Fard einen Traum vieler Jugendlicher.

In einem alptraumhaften Kontext findet Peter Pan bei Fard keine Erwähnung. Er hat seinen Kindheitserinnerungen 2016 sogar einen zweiten Teil hinzugefügt. "Peter Pan 2" bedient grundlegend das baugleiche Schema wie sein Vorgänger. Ergänzend streut der Song noch Hinweise auf die Veränderungen im digitalen Zeitalter ein. Doch Fard setzt sich weiter mit Peter Pan gleich, weil es wohl kaum ein stärkeres Bild für ewige Jugendlichkeit gibt, mit dem alle direkt etwas anfangen können.

Shindy entlehnt das Peter-Pan-Syndrom

Die Kunstfigur Papi Pap ist regelrecht nach Wesensarten ausgerichtet, die in Verbindung zu Peter Pan stehen. Shindys 2019 großinszeniertes "Drama" ist eine Verbeugung vor dem Charakter und der psychoanalytischen Ebene, die der Story vor allem durch das Werk "The Peter Pan Syndrome" des Familientherapeuten Dan Kiley beigefügt worden ist. Dieser hat den Begriff Peter-Pan-Syndrom in den Mainstream eingeführt. Er führt in seinem Buch verschiedene Merkmale an, die sich unter anderem auf Schlagworte wie Verantwortungslosigkeit, Einsamkeit, Narzissmus und Chauvinismus hinunterbrechen lassen.

Es erweckt fast den Eindruck, als hätte sich Shindy an diesem Eigenschaftsbaukasten bedient. Schließlich inszeniert sich der Halbgrieche in seinen Tracks als aalglatter Player, der keine Lust auf tiefere Bindungen verspürt. Die Abscheu vor echten Gefühlen treibt ihn von Frau zu Frau. Nur die eigene Mutter bekommt einen festen Platz in Shindys Welt eingeräumt. Vor ihr wechselt der "Rapsuperstar" sogar untypischerweise in einen Rechtfertigungsmodus:

"Ja, meine Musik ist zu laut, ich weiß, Mama / Lass mich nur kurz fertigmachen bis um zwei, Mama / Vielleicht hast du recht und ich verschwende Zeit, Mama / Vielleicht werd' ich berühmt und dann sind wir reich, Mama"

Diese Haltung schlägt sich in Shindys Texten nicht erst seit dem Abgang von EGJ nieder. Mama bekommt einen Sonderstatus. Alle anderen Frauen sind eher Spielzeuge, die schnell ihren Reiz verlieren. Es ist das "Peter-Pan-Syndrom, B*tch", wie Shindy auf "Stress ohne Grund" wohl treffend diagnostiziert. Das Ausleben der eigenen Wünsche und Vorstellungen steht im Mittelpunkt. Man "f*ckt nicht mit 'nem Peter Pan", der sich eindeutig als Alphatier betrachtet.

Emotionale Momente findet man höchstens in Exclusives – aber auch diese erzählt der Bietigheim-Bissinger mit einem gewissen Abstand. Es regieren Arroganz, Rollengepose und Glücksmomente, die sich über Konsum herstellen lassen. Verantwortung für sein Handeln weist der Künstler von sich. Mit diesen Merkmalen ausgestattet will Shindy auf "DODI" ein "Teenager forever" sein: ein Peter Pan des modernen Kapitalismus. In dieser Gestalt liefert er sowohl musikalisch als auch lyrisch Querverweise auf ein Leben als Heranwachsender. Der Sound greift viele Elemente der späten Neunziger und der frühen Zweitausender auf. Inhaltlich kommen mitunter Figuren sowie Referenzen zum Tragen, die mit dem Kindsein vernetzt sind.

"Es heißt, Michael steht vorm Ende wie bei Jim Knopf / Große Pause, aber für euch Kinder bleib' ich King Bob"

Sein enger Kreis besteht dabei aus "Friends With Money" – also Menschen, die gleiche Wertemaßstäbe anlegen wie Shindy als Rapper. Seine persönlichen "Lost Boys" outen sich als gut verdienende Mitstreiter, die ähnlich emotional verloren scheinen. Sie fügen sich in Shindys moderne Nachempfindung der Peter-Pan-Figur.

Diese reichert Shindy wie erwähnt häufig mit Verweisen an, die all dem Statusgetöse etwas Kindliches beimengen. Ein Badboy-Image wie "Roger Klotz" ("Roli") verschafft Shindy kaum mehr Härte, sondern spannt den Bogen in ein Zeichentrick-Universum. Wie entrückt Shindy phasenweise dem Diesseits gegenübersteht, spiegelt seine augenscheinliche Faszination für den Tod.

7 Lines, auf denen Shindy über seinen Tod rappt

Viele Menschen machen sich darüber Gedanken, wie ihr Leben wohl enden mag. Shindy scheint sich besonders häufig mit der Endlichkeit seines Daseins zu beschäftigen. Zu diesem Schluss gelangt man unweigerlich, wenn man auf die Lyrics des Bietigheim-Bissingers schaut. Papi Pap hat in den letzten Jahren einige sehr konkrete Aussagen getätigt, die mit seinem Tod und der Zeit danach in Verbindung stehen.

Dennoch ist seine Interpretation von Peter Pan weniger greifbar. Sie scheint sich an der Konstruktion von Familientherapeut Kiley zu orientieren. Shindy erscheint dabei wie ein neuartiger Peter Pan, der kein Interesse daran hat, genauer auf eine Zeit ohne Erfolg und massig Cash zurückblicken. Stattdessen schwebt Shindy in Bahnen, die er möglichst eng um sich und seine Konsumgüter zieht.

RIN erschafft sein eigenes "Nimmerland"

Auf seinem Ufo361-Feature zu "Next" liefert RIN die Reiseroute für sein neues Soloalbum gleich mit. Es geht ins "Nimmerland", das der Rapper mit diversen Singles wie "Vintage", "Fabergé", "Up In Smoke", "Keine Liebe" oder "Bietigheimication" im Vorfeld ansteaste. Der Titeltrack ist mit der Band Bilderbuch entstanden und wohl am weitesten von Rap entfernt. Darin stellt RIN heraus, dass es vor der Realität kein Entrinnen gibt. Erwachsenwerden ist unausweislich – trotzdem kann man versuchen, dagegen anzukämpfen.

"Wir bleiben immer Kinder, wenn du's schaffst"

Im Gegensatz zu Fard oder Shindy baut sich das Division-Signing einen Kosmos, der nur am Rande auf dem Charakter Peter Pan fußt. Vielmehr steht der Vibe der Singles für eine generelle Rückbesinnung. Dafür holt Bausa den inneren Kim Sanders hervor und interpretiert die Echt-Hook von "Du trägst keine Liebe in dir" neu. Im Video sieht der Zuschauer dann Nachahmungen bekannter Filmszenen aus "American Psycho" und "Requiem For A Dream".

RIN blickt ständig in den Rückspiegel der Popkultur. Der Titel "Up In Smoke" ist eine Referenz an eine legendäre Tour von Dr. Dre, Snoop Dogg, Ice-T und Eminem. "Vintage" ballert mit "Dirt Off Your Shoulder"-Sample aus der Anlage und "Bietigheimication" bedient sich im Titel an "Californication" von den Red Hot Chili Peppers. RIN kehrt haufenweise musikalische Ereignisse hervor, die ihn vielleicht kurz vor oder während der Pubertät gestreift haben. "Fabergé" arbeitet diese Abweichung zur ursprünglichen Peter-Pan-Geschichte am deutlichsten in einer Animation heraus.

Es geht RIN nicht darum, sich in diese bereits erschaffene Welt einzunisten. Vielmehr schöpft RIN aus seiner eigenen Übersetzung von "Nimmerland". Es ist ein träumerisches Schwelgen in glorreichen Momenten, die er selbst gar nicht erlebt haben muss. Er greift sich Elemente heraus und haucht ihnen eine neue Ästhetik ein. Warum?

"Weil ich in mei'm Nimmerland bin"

Frank Ocean schaut auf das Bett herunter, auf dem RIN chillt. Nike taucht als prominenter Sponsor auf, Poster von Filmklassikern der Neunziger wie "La Haine" oder "Kids" prangen an der Wand. Vielleicht schweift RIN ab, wenn er dort an der Zigarette zieht – die Realität bleibt in unmittelbarer Umgebung. Sie liegt in RINs ringbeschmückter Hand:

6. DEZEMBER NIMMERLAND Rießen Dank an den wunderbaren @antonitudisco @mvrc.t und alle weiter jungs @brownshootta @thefactory___ für das ermöglichen dieses wundervollen Covers INTERPRETIERT ES SELBST ach und ihr habt mehr als 50% der boxxen schon weggemacht seid schnell, link in Bio

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Peter Pan durchzieht ganz Deutschrap

Peter Pan und Nimmerland – das ist Alles, Nichts und immer genau so viel, dass man es künstlerisch auf vielen Wegen verarbeiten kann. Wohl kaum jemandem ist die Figur fremd. Peter Pan und das Nimmerland erschaffen eine unmittelbare Assoziation. Das führt auch dazu, dass Deutschrapper sich gegen die Idealisierung des Charakters wenden. Metrickz hat auf dem Track "Wolkenkratzer" keinen Bock in einem kindlichen Mindstate festzuhängen und wird stattdessen "in Gotham groß". Mudi war schon früh ein Mann und konnte nicht "Kind sein". Veysel nutzt in "Green Mile" die Peter-Pan-Metaphorik als Gegengewicht, um die Härte des Hustles auf der Straße aufzuzeigen.

Solche wenig romantisierenden Bezüge bilden jedoch eher die Ausnahme. Das Konzept vom Nicht-erwachsen-werden-wollen ist gerade bei Männern eine Fantasie, die sich allzu gerne angeeignet wird. Gleichzeitig umgibt die Story eine Tiefe und Komplexität, die über Generationen hinweg interessant und vertraut bleibt. Peter Pan liefert damit auch ein Gegengewicht zum Hier und Jetzt, in dem alles nach irdischen Regeln funktionieren muss. Träumen ist doch um einiges spannender.

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