Deutschrap, Reggae, Dancehall: "Palmen aus Plastik" als Herzrhythmusmassage für die alte Liebe?

Ob unter echten Palmen oder bei geringerem Budget unter Palmen aus Plastik – 2016 ist ein gutes Jahr, um sich musikalische Cocktails aus Rap und Reggae oder Dancehall zu genehmigen.

Drake (One Dance oder Controlla), die Pop-Prinzessin Rihanna oder der französische Shootingstar MHD (Afro Trap) haben karibischen und afrikanischen Rhythmen sicher einen amtlichen Schub verpasst. Hierzulande machen RAF Camora und Bonez MC mit ihrem Kollaboalbum Schlagzeilen und nehmen eine Vorreiterrolle ein, die nicht nur für unsere Szene ein richtig dickes Ding werden kann.

Das Album Palmen aus Plastik des neuen Duos steht erst ab dem 9. September in den Läden, aber schon jetzt ist es ein aussichtsreicher Kandidat für die Jahresendlisten und Award-Verleihungen. Die beiden nutzen damit nicht nur die Chance, ihren Fans etwas Neues schmackhaft zu machen. Auch für die deutsche Reggae/Dancehall-Landschaft kann die Platte Großes leisten.

Deutscher Reggae hat Probleme

"Reggae ist weichgespült, inhaltlich und klanglich", beschwerte sich der leidenschaftliche Fan und Journalist Socialdread, der u. a. für Deutschlands größtes Reggae-Magazin Riddim schreibt, im März. Das Beste, das er in den letzten Monate gehört habe, seien Hiphop-Remixe gewesen. Er wünscht sich mehr Dreck, Lässigkeit, Wortschatz und frische Themen. Lieber Socialdread, (nicht nur) deine Wünsche wurden erhört. Jetzt wird reanimiert.

Warum mich deutscher Reggae langweilt (WDSUSDL 01/16)

Ich liebe Reggae und fast alle seine Spielarten, wirklich. Und weil Liebe Ehrlichkeit vertragen muss, führe ich hier ein neues Format ein: WDSUSDL (Weck Die Stadt Und Sag's Den Leuten). Was ich euch sagen möchte? Meine Meinung zum Stand von Reggae, zur Szene ... Hosen runter, Karten auf den Tisch.

Lass das mal die Rapper machen!

RAF und Bonez bringen mehr als ihre für die meisten deutsche Reggae-Artists utopische Fanbase mit: Dancehall- und Reggae-Riddims treffen auf humorvoll-kompromisslosen Straßenrap á la 187 und einen der soundtechnisch wohl talentiertesten Köpfe im deutschsprachigen Raum.

Statt der (selbstverständlich lobenswerten, aber irgendwann ermüdenden) Friede-Freude-Eierkuchen-Botschaft und all der oft sehr bemüht wirkenden Gesellschaftskritik gibt's authentische Stories über den Alltag mit den Jungs, über Frauen und vielleicht auch mal ein bisschen Waffengelaber – aber hey, das machen einige der ganz großen Jamaikaner wie die lebenslang inhaftierte Ikone Vybz Kartel nicht anders. Der harte Dancehall, den auch das PaP-Feature Tommy Lee Sparta vertritt, konnte bislang in Deutschland zwar auf den Dancefloors, aber nicht in der lokalen Musikszene Fuß fassen. Eine eigentlich sehr liebenswerte Eigenschaft hat die Artists in eine Sackgasse geführt: Sie sind zu lieb.

"Reggae braucht mehr Rap, mehr Punk, mehr Kante! Vielleicht finde ich ihn dann wieder spannend", findet Socialdread. Lass das mal die Rapperchens machen ...

Nicht nur RAF und Bonez ...

Nicht nur RAF und Bonez sind da gerade gut am Start. Kaas zum Beispiel hat auf Jamaika mit den Jugglerz eine Reggae-EP aufgenommen, auf der er die unterschiedlichen Spielformen des Genres mit diversen anderen Einflüssen vermischt. Der Bremer Rapper/Sänger Flo Mega hat zudem im Juli die herrlich dubbig wummernde Zebra EP veröffentlicht.

Und dann wäre da noch Megaloh, der gemeinsam mit seinem Produzenten Ghanaian Stallion ein kleines Crossover-Meisterwerk gezaubert hat. Auf Regenmacher hören wir jede Menge Bläser, Offbeat-Riffs und weitere typische Elemente, die mit Soul, Funk, Trap und unverschnittenem Hiphop zusammenklatschen. Der Titelsong, Geradeaus mit Jan Delay oder Exodus mit Max Herre, ASD und Gentleman sind hier hervorzuheben.

Trettmann - Was Solls feat. Megaloh (prod. Teka) (splash! Mag TV Premiere)

"Was Solls" kaufen: http://snip.ftpromo.net/wassolls Trettmann hat sich nicht nur des stereotypen Ronnys entledigt, sondern auch musikalisch eine neue Herausforderung gesucht. Ostdeutscher Reggae war und ist nicht das, wofür der Leipziger steht. Und doch: Die inhaltliche Nähe zu Jamaika bleibt, ist aber stärker von Popcaan oder sogar Young Thug, denn von den alten karibischen Helden inspiriert.

Wenn wir von Deutschrap und Reggae sprechen, muss gerade 2016 der Name Ronny Trettmann fallen. In der Reggae-Szene schon lange den meisten ein Begriff, hat der Sachse sich inzwischen ohne Vornamen auch in die Deutschrap-Materie gefuchst. Weil Autotune so schön guggelt und die Geister spaltet, hat er es sich mit dem Kitschkrieg-Team zur Aufgabe gemacht, den vielleicht reifsten deutschen Entwurf dessen zu liefern, was immer noch durch den ungeliebten Begriff Cloudrap gut beschrieben werden kann.

Kein Zufall, dass Trettmann jetzt auch zweimal auf der Rap-Reggae-Zusammenkunft Palmen aus Plastik zu hören sein wird. Schon vor zwei Jahren gab es in seinem Video zu Gewehr bei Fuß Handshake mit RAF (bei 1:10 Minuten):

RONNY TRETTMANN - GEWEHR BEI FUß (prod. by Symbiz) - SoulForce Records

Free Download: https://soundcloud.com/soulforce/ronny-trettmann-gewehr-bei SoulForce Records, Berlin 2014 "Trettmann, Symbiz und SoulForce tun sich zusammen - wie kam es dazu?" Beats aus einem Casiokeyboard und dazu Reggaegesang: Das ist der Stoff aus dem Legenden geschmiedet werden! 1985 erschütterte Wayne Smiths „Under Mi Sleng Teng" die Tanzhallen Jamaikas mit einer druckvoll-monotonen Bassline und elektronischen Sounds.

Die Geschichte weiterschreiben

Das alles soll nicht so klingen, als wäre eine Mischung aus Rap und karibischen Sounds eine nie dagewesen Revolution im deutschen Musikgeschäft. Die Heidelberger Irie Révoltés mischen schon lange Reggae mit Elementen aus Hiphop, Elektro, Punk und vielen weiteren Genres und fahren damit ziemlich gut. Nikitaman hält seit über einem Jahrzehnt die Rap-Fahne im Reggae-Kosmos hoch, Moop Mama mit dem ehemaligen Creme Fresh-Rapper Keno sind seit 2009 aktiv und auch für RAF ist das kein neues Metier: Als Konshens 2010 gerade seinen endgültigen Durchbruch in der Dancehall-Szene feierte, war er auch auf Therapie nach dem Album zu hören und 2012 landete niemand Geringeres als Reggae-Großmeister Sizzla Kalonji auf RAF 3.0. Denkt außerdem auch an Seeed, die Anfang des Jahrtausends mit ihrem einzigartigen Genre-Mischling den Grundstein für den enormen Erfolg von heute legten.

Überhaupt haben Deutschrap und Reggae eine lange und interessante Geschichte. Freundeskreis, Samy Deluxe, Afrob, Gentleman oder D-Flame sind nur einige Namen, die schon ewig diese Verbindung representen. Das Splash! Festival buchte lange Acts wie Beenie Man, Gentleman, Bounty Killer, Elephant Man oder Assassin. 2001 erschien zudem die Germaican-Compilation, die jamaikanische Künstler mit deutschen Rappern wie Kool Savas, den Spezializtz oder der Ruhrpott AG (RAG) zusammenbrachte.

RAF CAMORA FEAT. BONEZ MC - GESCHICHTE (OFFICIAL VIDEO) | GHOST 15.04.2016

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RAF Camora und Bonez MC können dieser kulturellen Symbiose jetzt, wenn alles glatt läuft, mit dem ausufernden 187-Hype im Rücken, so sicher wie Wölfe bei Vollmond jaulen einen neuen Kick verpassen. Die Geschichte weiterschreiben. Längst überfällig, wenn mich jemand fragt.

Vielleicht bleiben ja auch ein paar junge Hörer ein bisschen an den karibischen Sounds kleben und in ein paar Jahren trägt das dann neue Früchte. Eine Herzrhythmusmassage für die eingestaubte deutsche Reggaeszene, die auch dem guten Socialdread ein Lächeln auf die Lippen zaubern dürfte.

Mit unserer Spotify-Playlist nehmen wir dich mit auf eine kleine Reise durch die gemeinsame Vergangenheit der beiden Genres. Von Freundeskreis bis 187 finden sich da einige Schätzchen aus der jüngeren oder nicht mehr ganz so jungen Vergangenheit:

Deutschrap x Reggae x Dancehall, a playlist by Hiphop.de on Spotify

Wenn deutscher Rap auf karibische Rhythmen trifft, brennen der Dancefloor und die Boxen - nicht erst seit gestern. Hier gibt's das Beste aus rund 20 Jahren!

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