So anders tickt das Frauenfeld-Publikum

Ich atme tief durch, wohlwissend, dass sich Kollegahs Part des Songs Karate dem Ende zuneigt und wer dann die Hauptbühne betreten wird. "Bis sie heiser wird wie 'n Thai-Imbiss" dröhnt aus den Boxen, die Hook setzt ein und Casper springt auf die Stage, um anschließend die Hook und seinen Part zu rappen. Ein echter Festival-Moment, aber irgendwas ist anders als sonst.

Auf anderen Festivals hätte ich mir spätestens zu diesem Zeitpunkt mindestens acht Ellenbogen gefangen und vergeblich versucht, dem Hagel aus in die Luft geworfenen Bierbechern auszuweichen. Zudem wären irgendwo im Publikum betrunkene Idioten aneinandergeraten, die ihre Männlichkeit scheinbar nur durch die Zurschaustellung sinnloser Gewalt beweisen können. Wild durch die Luft springende Feierwütige hätten sich ihre brandneuen Sneaker ruiniert, ohne dass ihnen das im Nachhinein Kummer bereitet hätte. Kurzum; es hätte mächtig gescheppert und alle Beteilligten hätten das trotz kleiner Folgeschäden wahnsinnig genossen.

Hier in der Schweiz ticken, nicht nur wegen Rolex, Breitling und Co, die Uhren anders. Scheinbar zu Salzsäulen erstarrte Bewohner unseres Nachbarlandes stieren unbeteilligt Richtung Bühne, als würden sie sich gerade einen Kinofilm das zweite Mal ansehen. Mich überrascht das und so frage ich nachdem die beiden die Bühne verlassen haben die um mich stehenden Festival-Besucher, ob ihnen der Auftritt nicht gefallen habe. Nachdem ich irritiert angeschaut werde teilen mir alle mit, dass dieser einer der krassesten Momente des Festivals gewesen sei und dass sie gerade den Casper-Gastauftritt unfassbar gefeiert hätten. Mir wird bewusst, dass die Besucher hier ihre Gefühle nicht so offen zur Schau stellen, wie es deutsche Festivalgäste tun.

Dies mag für deutsche Besucher und die Künstler selbst zunächst komisch sein, aber es bringt auch allerhand Vorteile mit sich. Während auf anderen Festivals regelmäßig Alkohol-Leichen aneinander geraten und Sicherheitskräfte oft Höchstleistungen erbringen müssen, geht es auf dem Frauenfeld sehr friedlich zu. Es gibt kaum Schlägereien, die Alkoholexzesse halten sich in Grenzen und kaum jemand versucht sich auf Kosten eines Schwächeren zu profilieren. Die Stimmung ist insgesamt einfach deutlich entspannter.

Das hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass die Leute hier eher rauchbaren botanischen Heilkräutern zugewandt sind, als Billigschnaps und Dosenbier. Hier liegt stets ein leicht süßlicher Duft in der Luft und die Dixi-Toiletten sind nicht bereits fünf Minuten nach der Öffnung durch Erbrochenes unbenutzbar. Dennoch, beziehungsweise gerade deshalb, haben die Besucher einfach eine gute Zeit, ohne dass eskalierende Besäufnisse oder sinnlose Auseinandersetzungen ihnen das Festival versauen. Hier geht es um Musik und nicht darum, wer am besoffensten auf Zeltplatz liegt während Rapper XY die Hauptbühne auseinandernimmt. 

Natürlich ist das auf den ersten Blick befremdlich, aber rückblickend ist das doch ganz angenehm.

Marc Schleichert

Autoreninfo

Marc Schleichert ist seit Anfang 2014 ein Teil von Hiphop.de und leitet hier den Textinterview-Bereich. In dieser Funktion spricht er regelmäßig sowohl mit hungrigen Newcomern als auch mit alteingesessenen Künstlern.
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