2016 Artists To Watch: Wir haben mit Kehlani gesprochen

"Von der Straße in die Charts" ist wahrscheinlich die ausgelutschteste Phrase, wenn Rapper vorgestellt werden. Man sollte meinen, das Prinzip des Tellerwäschers zum Millionär wäre allmählich so zäh wie ein Kaugummi – doch "America's got a thing for this gangsta shit", wusste 50 Cent, Chef dieser Kategorie, zu gut.

R&B-Sänger sind da anderer Natur. Oft wachsen sie Tür an Tür mit späteren Rappern auf – Jennifer Lopez und Mary J. Blige in der Bronx, R. Kelly in Southside, Chicago – doch machen es nicht zum Dreh- und Angelpunkt ihrer musikalischen Reise.

Wo bei Rappern gerne mal dramatische Zeilen im Lebenslauf von Hollywood inspiriert sind, nehmen R&B-Künstler lieber die Route des Understatements. Ihre Erzählungen drehen sich größtenteils um Herzschmerz und die schönen zwischenmenschlichen Dinge im Leben.

Kehlani ist 20 Jahre jung, als sie uns im Interview gegenüber sitzt. Zierlich, müde. Sie gähnt. Die letzten fünf Jahre waren rasant. Als sie sich 2011 als Teil einer Teen-Band bei der amerikanischen Version des Supertalents anmeldet, schöpft sie gerade einmal aus 16 Jahren Lebenserfahrung. Auf dem Weg in die letzte Show singt die Band bedeutungslose Cover – wie man das nunmal in einer Billigsendung macht. Im Finale scheitern sie. Die Jury ist der Meinung, Kehlani wäre ohne Band besser aufgehoben. Das Preisgeld geht an irgendwen anders.

Den Sternen zum Greifen nah stürzt sie aus allen Wolken. Und landet auf der Straße. Ohne Perspektive. In Oakland, Kalifornien ist das selbstbewusste Mädchen ohne Vater aufgewachsen. Wann er starb, weiß sie nicht. Als ihre drogenabhängige Mutter sie auf die Welt bringt, ist sie auf der Flucht vor den Bullen. Kehlani wird als Säugling ins Krankenhaus gesteckt, ihre Mutter ins Gefängnis. Nach anstrengenden Monaten im Heim adoptierte ihre Tante sie.

Nach der Niederlage bei der Casting Show fällt Kehlani in ein Tal, surft von einer Couch zur anderen, lässt sich in kürzester Zeit den ganzen Körper tätowieren. Die Endstufe der Verzweiflung ist erreicht, als sie im Walmart Essen klauen muss. An Bahnstationen reißt sie Leuten ihre Handys aus der Hand und rennt los, um sie später zu verkaufen.

Es ist lediglich eine glückliche Fügung, dass Kehlani keiner Sucht verfällt, wie etwa ihre Eltern. Bevor es so weit kommt, meldet sich Nick Cannon, Moderator von America's Got Talent. Offenbar immer noch begeistert von Kehlani, lädt er sie nach Los Angeles ein und ermöglicht ihr einige wenige Studiotage in New York. Dort trifft sie den ebenso jungen Jahaan Sweet, der die Produktion übernimmt. Sweet studiert Jazz Piano an der Juilliard, der wichtigsten Musik-Universität der Welt. Die beiden schweben unmittelbar auf einer Wellenlänge – das Projekt Cloud 19 geht 2014 durch die Internet-Decke und wird von unterschiedlichen Publikationen in hohen Tönen gelobt.

Ab da nimmt die gute alte Geschichte ihren Lauf: Alle Plattenfirmen reißen sich um sie, am Ende entscheidet sie sich behutsam für Atlantic Records. "Ich bin zu 100% ich selbst. Ich schreibe alle meine Songs alleine", erzählt sie uns eindringlich im Interview. Kehlani ist es wichtig, ihre Authentizität unter Beweis zu stellen. Es ist tatsächlich ungewöhnlich, dass Sänger dieser musikalischen Umsetzung ihre Texte ausschließlich selbst schreiben. "Bei mir gibt es keine seltsamen Marketing-Strategien. Was du siehst und hörst, ist ehrlich. Man kriegt mich in Reinform."

Gespräche über ihre – selbst für die Industrie – außergewöhnlich verstörende Kindheit sind ihr trotzdem unangenehm, man kann es ihr ansehen. Viel lieber spricht sie über Musik. Sie zeigt ihre Playlist mit Bryson Tiller und The Weeknd. Erzählt stolz von Treffen mit Drake, Skrillex und A$AP Rocky. "Ich hätte liebend gerne mit James Brown zusammengearbeitet. Und natürlich Michael Jackson". Wer nicht? Sie ist mit ihren zarten 20 Jahren geübt genug darin, allgemeingültige Antworten zu finden. Die Industrie geht nicht an einem vorbei, man kann sich nicht wehren, die Worthülsen zu übernehmen. "Mein junges Alter bedeutet nichts. Ich bin schon für alles bereit. Es kann losgehen", sagt sie mutig. Und drescht – ohne es zu merken – noch eine dieser typischen Aussagen raus.

Gewissermaßen hat sie sogar Recht. Ihr Vorbild, niemand geringeres als Beyoncé, war mit 20 Jahren schon ein weltweiter Hit-Garant. "Sie kann alles. R&B, Synthie-Pop, Blues, Hiphop, Balladen… als Songwriter ist es eine Herausforderung, immer wieder mit unterschiedlichen Methoden zu schreiben. Das will ich meistern. Ich möchte meinen Sound ständig ändern, damit ich niemals langweilig werde."

Von Langeweile ist Kehlani noch eine ganze Galaxie entfernt. Das aktuelle Werk You Should Be Here setzte ihrem Debüt noch eins drauf. Im Dezember geschah dann das Undenkbare: Für die 58. Grammy Awards konnte sich das Album tatsächlich eine Nominierung sichern. Kehlani freut sich tierisch. Auf ihrem Oberarm prangt prominent das Gesicht von Lauryn Hill. "Ich weiß, sie hat damals den ganz großen Grammy gewonnen. Jetzt darf ich da über den roten Teppich laufen, das ist der Wahnsinn", funkeln ihre Augen.

Als The Miseducation Of Lauryn Hill 1998 Rap und R&B umkrempelt, ist Kehlani noch nicht einmal drei Jahre alt, versteht die Platte kaum. "Ich kann mich aber noch ganz genau daran erinnern, wie meine Tante das Album rauf- und runtergespielt hat. Sie hat sich beim Kochen ständig umgedreht und es mir vorgesungen. Meine Tante war genau wie Lauryn eine starke Frau, hat ihre Meinung unverblümt gesagt und hatte vor niemandem Angst. So wollte ich immer sein."

Den Grammy musste sie The Weeknd überlassen. Kein Drama. "Ich bin einfach überglücklich, dass ich mir alles kaufen kann, was ich möchte. Ich bin nicht einmal reich und ich kaufe mir auch keine teueren Sachen. Aber meiner Familie und meinen Freunden Klamotten und Essen kaufen zu können, ist ein tolles Gefühl. Jetzt muss ich nicht mehr im Walmart klauen."

Darüber kann sie lächeln. Mittlerweile sitzt Kehlani mit Pharrell Williams im Studio und arbeitet an neuen Songs. Auch auf Tour in Europa hat sie fleißig weitergeschrieben. Es plagen sie nun ganz andere Probleme. Wie soll man anders sagen: Sie ist von der Straße in die Charts.

Interviews: Helen Fares, Aria Nejati
Aria Nejati

Autoreninfo

Aria Nejati ist seit 2013 Teil des Hiphop.de-Teams. Als Chef des US-Ressorts interviewte er schon Größen wie 50 Cent und Ice Cube. Außerdem schreibt er für die GQ und das JUICE Magazin.