Azads "NXTLVL": Enttäuschung oder Meisterwerk? Die Redaktion diskutiert

An Azads neuem Album NXTLVL scheiden sich die Geister: Der Bozz rappt auf Trap-Beats. Seit letztem Freitag ist das Ding endlich draußen. Viele Fans feiern die neue Platte, andere wünschen sich hingegen den alten Azad zurück. Auch innerhalb der Hiphop.de-Redaktion gehen die Meinungen zu NXTLVL auseinander. Marc Schleichert und David Molke diskutieren angeregt über das neue Album der Frankfurter Legende.

Marc: Als Azad vor rund 18 Monaten nach Jahren des Wartens endlich die Fortsetzung des Überklassikers Leben veröffentlichte, brachen auf den Straßen der Mainstadt Jubelstürme aus. Der B.O.Z.Z. war zurück, um dem deutschen Straßenrap eine Lehrstunde zu erteilen. So dachte man zumindest. Allerdings, so pfiffen die Spatzen schon länger von den Dächern der grauen Frankfurter Wolkenkratzer, hätte AZ selbst zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Sound näher am Zeitgeist orientiert, konnte das aber nicht, da er seinen Fans leider bereits die Fortsetzung des Leben-Albums versprochen hatte. Ähnlich gezwungen klang dieses Release dann auch. Lines, nah an der Fremdscham-Grenze ("Die Leute fragen sich, ob Toxik Wikinger ist / Die Leute sagen sich bei mir: "Wouh, wie King er ist""), ein kaum zeitgemäßes Soundbild und eine unwürdige Mische. Enttäuscht von dieser Negativleistung, sehnte ich das Trap-Album Azads herbei, über das schon länger spekuliert worden war. Ich war gespannt, wie AZs Stärken auf modernen Instrumentals zur Geltung kommen und was viel wichtiger ist: Ich war gespannt auf das Azad-Album, das er vor Jahren schon abliefern wollte und musste.

David: Sowas hören zu müssen, löst bei mir mentale Krisen aus. Ich verstehe nicht, wie man bei Musik "nicht zeitgemäß" als Negativ-Kritikpunkt anführen kann. Sollte sich wirklich gute Kunst nicht ganz bewusst über derartige Grenzen hinwegsetzen, anstatt den gerade angesagten Trends hinterherzurennen? Mir fallen auf Anhieb mehrere Nummer-1-Alben ein, die mit Absicht – und Erfolg – auf "altmodischen Sound" setzen oder etwas völlig Neues gemacht haben. Nur zur Erinnerung: Leben II war auch auf der 1 und zwar völlig verdient.  Aber sch**ßen wir auf die Charts: Azad hat mit Leben II einfach abgeliefert und nach gefühlt ewiger Wartezeit mich als treuen Fan glücklich gemacht. Allein beim Intro kriege ich immer noch Gänsehaut ("Guck: Dieses Album ist das Größte, was ich je gemacht hab' – nach meinem Kind. Muss ich noch mehr sagen?") und Tracks wie T-Rex oder Kaiserrap liefern mir ganz genau den Azad-Rap, den ich so liebe. Ah, und ich kenne außer dir wirklich niemanden, der die Toxik-Line nicht feiert. Was für Fremdscham? Zur Seite mit dir! Du kannst es dir wohl schon denken: Ich gehöre zu denen, die den Trap-Ambitionen von Azad ein bisschen skeptisch gegenüberstanden, als die Ankündigung kam. Höchst gespannt war ich aber natürlich auch.

Marc: Grundsätzlich hörte man Leben II an, dass es nicht das Album war, das Azad machen wollte. Sein Mindset, seine Lebensumstände und Rap an sich hatten sich verändert. Die Platte, die er schon damals veröffentlichen wollte, nennt sich NXTLVL und wir halten sie nun endlich in den Händen. Die angesprochene Vorfreude war bei mir allerdings nach den ersten beiden Anspielpunkten des Albums recht schnell verflogen. Calo, der das Album eröffnet und der als Dauerfeaturegast auftritt, ist für mich stilistisch zu nah an Tory Lanez und überschreitet dabei den schmalen Grad zwischen "Inspiration" und "Biting". Azads Stimme reißt allerdings nach wie vor Krater in jede Oberfläche und auch der Flow ist erhofft brachial. Dies ändert sich leider gleich beim zweiten Anspielpunkt In der Hood. Die Betonung wirkt aufgesetzt, der Flow und der Stimmeinsatz erinnern beinahe schon unangenehm an Fler und die gesungene Autotune-Hook kommt aufgrund der hohen Tonlage eher unpassend daher. Die Geschichten, die Azad erzählt, sind dabei beliebig und unterscheiden sich quasi gar nicht von den Storys anderer aktueller Straßenrapper. Authentische Beobachtungen Frankfurter Einzelschicksale und große Bilder sind Plattitüden gewichen, die der geneigte Deutschraphörer derzeit massenhaft serviert bekommt. Solche Massenware ist allerdings einer Legende, wie Azad eine ist, völlig unwürdig. Siehst du das anders?

Warum NXTLVL einen völlig neuen Azad zeigt, erfährst du auf der nächsten Seite.

David: Allerdings, das sehe ich anders! Bei mir war die Vorfreude immens, nachdem als erstes Video direkt Endgegner mit Kool Savas ausgekoppelt wurde. Das sticht vom Sound her auch insgesamt ziemlich raus. Nach vorn mit Calo hat mich dann positiv überrascht, muss ich gestehen. Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt und finde, Calos helle, hohe Stimme bildet ein optimales Gegengewicht zu Azads tiefem Organ. AZ selbst macht ebenfalls eine äußerst gute Figur auf den Beats. Es ist geradezu erfrischend, ihn mal auf anderen Instrumentals zu hören. In der Hood fand ich persönlich dann auch wieder etwas schwächer, trotz der unglaublich einprägsamen Ohrwurm-Hook. Dass er nicht ausschließlich mit dem Vorschlaghammer zu Werke geht, kann man ihm eigentlich auch nicht ankreiden. Azad hat ganz offensichtlich seine Experimentierfreude wiedergefunden und limitiert sich selbst nicht mehr – egal, ob es um die Beats oder den Flow geht. Der Bozz zeigt auf NXTLVL meiner Meinung nach mehr denn je, dass er ein Meister aller Klassen ist. Während andere Rapper auf eine Stimmlage, einen Flow und eine Geschwindigkeit beschränkt sind, kann Azad alles. Dass sich die Inhalte ähneln, mag daran liegen, dass schätzungsweise 100 % der aktuellen Straßenrapper von Azad inspiriert sind. Nur, dass er eben schon vorher da war und ich ihm die Storys abkaufe – ganz im Gegensatz zu den Geschichten vieler anderer. Jahrelang haben die Copycats quasi auf Azads Nacken Patte gemacht, während er weg war. Jetzt ist er endlich wieder zurück und holt sich sein Hak. Was soll daran falsch sein? Außerdem erzählt In der Hood ja auch keine richtige Geschichte, sondern wirft eher Schlaglichter. Das sind für mein Empfinden vielmehr einzelne Momentaufnahmen, kleine Details, die ein großes Gesamtbild ergeben, oder auch eine Art Stillleben. Ein bisschen wie ein modernes Mein Block II.

Marc: Azad mag auf NXTLVL in Sachen Flow und Beats experimentierfreudiger als je zuvor daherkommen und ja, zu Beginn des Albums mag das auf wohlgesonnene Hörer erfrischend wirken. Textlich zeigt sich Azad allerdings so limitiert wie nie zuvor. Die Songs sind zu großen Teilen inhaltlich völlig redundant und damit leider austauschbar. Es werden massenhaft "Neun-Millis" gezogen und dabei so wild mit austauschbaren Phrasen um sich geschossen, dass man Angst hat, dass jemand verletzt werden könnte. Lebensnahe Erzählungen von Hoffnung, Liebe und Leid sind flachen Plattitüden gewichen. Von einem Meister aller Klassen, wie du Azad bezeichnest, hätte ich erwartet, dass er imstande ist, sich von den eigenen musikalischen Ziehsöhnen abzuheben. Dass Trap nicht gleichbedeutend mit inhaltlicher Belanglosigkeit ist, beweisen zahlreiche talentierte Straßenrapper, die Azad mittlerweile allesamt die Show stehlen. Diese inhaltliche Leere und das stilistisch gleichförmige Soundbild des Albums führen dann dazu, dass ich mich an diesem Release wahnsinnig schnell sattgehört habe. Wo man früher das Gefühl hatte, Songs nochmal und nochmal hören zu müssen, um die großen Bilder der Frankfurter Legende fassen zu können, reicht nun theoretisch ein gelangweiltes Durchskippen, um die Eindimensionalität der Platte zu fühlen. Anders als du kaufe ich ihm viele Geschichten nicht mehr ab, sondern nehme sie als Festklammern an eine Zeit wahr, die er längst hinter sich gelassen hat. Da wirken Songs wie DSSAM beinahe wie ein Segen. Hier entfernt sich Azad von genretypischen Phrasen und gibt, vielleicht das erste Mal auf NXTLVL, wirklich authentisch seine aktuellen Lebensumstände wieder. Weit weg von Hoodmärchen und Schusswaffen. Realness ist, wenn die Musik die aktuellen Lebensumstände spiegelt. Das scheint dieser Song zu liefern. 

Auf der letzten Seite findest du unser abschließendes Urteil. Wie gut oder schlecht ist NXTLVL denn jetzt wirklich?

David: Was du als textlich limitiert bezeichnest, würde ich "frei", "weniger verkopft" und "aus dem Bauch heraus" nennen. Azad sagt in aktuellen Interviews ja selbst, dass er für NXTLVL ausnahmsweise nicht ewig an einzelnen, ausgefuchsten Reimketten gefeilt hat. Dasselbe lässt sich wohl auch auf die Inhalte übertragen. Azad rappt hier einfach frei von der Leber weg. So entstehen zwar keine überkomplexen Silbenmassaker oder monumentale Text-Gemälde, aber dafür bildet NXTLVL eben Azads jeweils aktuelle Stimmungslage ab. Und der Bozz scheint endlich mal überwiegend gute Laune zu haben. Wer will ihm das verdenken? Er rappt ja selbst: "Wer hätte je gedacht, dass ich es aus den Krisen schaff'?" Nach jahrelangem Drama und noch längerer Funkstille, hätte man daran durchaus zweifeln können. Umso mehr gönne ich AZ die gute Laune und es freut mich, ihn so unbeschwert zu hören. Dabei kommt dann nun mal ein Azad-Album heraus, das im Vergleich zu seinen Vorgängern eher leichte Kost bietet. Aber allein deswegen müssten echte Azad-Fans das Album doch eigentlich feiern: Dem Bozz geht es gut. Wer will das haten? Auf mich wirkt das Album auch stilistisch nicht einförmig. Wir haben es meiner Meinung nach mit dem abwechslungsreichsten Album von Azad zu tun, sowohl musikalisch als auch inhaltlich. Wo früher Düsternis und wahlweise Wut oder Trauer vorherrschten, gibt es jetzt feinere Nuancen zu entdecken. Die fallen einem beim gelangweilten Durchskippen aber natürlich nicht auf. Azad zeigt sich regelrecht verspielt auf NXTLVL und probiert alles Mögliche aus. Insbesondere hervorzuheben sind hier zum Beispiel Loco mit Skarra Mucci, Heisenberg, Für deine Augen mit Manuellsen oder natürlich auch Eigener Bozz mit Bonez MC und RAF Camora. Alles Songs, die sich musikalisch deutlich abheben und in denen inhaltlich jeweils ein bestimmtes Motiv, eine Idee, Stimmung oder Einstellung thematisiert wird. Ein Vibe, wie Fler sagen würde.

Marc: Deinen letzten Punkt würde ich gerne aufgreifen und die grundsätzliche starke Atmosphäre der Platte loben. Die insgesamt 18 (!) Produzenten haben allesamt abgeliefert und es gibt auf dem gesamten Release nicht ein schlechtes Instrumental. Dass ich dieses Release so schnell totgehört habe, liegt eher an dem musikalischen Leitfaden des Albums. Für sich genommen sind die Tracks allerdings allesamt stark ausproduziert. Hier lässt NXTLVL gewaltig die tätowierten Muskeln spielen und einige uninspirierte Nachwuchsproduzenten sollten lieber in Deckung gehen. Auch die Featuregäste sind, bis auf den zu häufig auftretenden Calo, sehr gut gewählt. Animus liefert seinen vielleicht stärksten Part seit Jahren ab, RAF schüttelt die möglicherweise beste Hook der Platte aus dem Ärmel und kaum jemand erzählt Erfolgsgeschichten so greifbar wie Bonez MC. Alles in allem ist Azads erstes großes Trap-Album kein Meisterwerk oder Klassiker geworden, ein Totalausfall ist es dabei allerdings auch nicht. Möglicherweise liefert es auch nur den Grundstein für kommende, große Azad-Releases in ähnlichem Soundgewand. Vielleicht kündigt der abschließende Track mit Kool Savas, der so gar nicht zum Rest der Platte passen möchte, auch das lang erwartete One II-Album an. Man wird ja wohl noch träumen dürfen.

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Marc Schleichert

Autoreninfo

David Molke schreibt seit Anfang 2016 für Hiphop.de. Als freier Autor war er unter anderem bereits für die Juice und Moviepilot.de tätig, während er sich aktuell auch noch auf GamePro.de mit Videospielen beschäftigt. Marc Schleichert ist seit Anfang 2014 ein Teil von Hiphop.de und leitet hier den Textinterview-Bereich. In dieser Funktion spricht er regelmäßig sowohl mit hungrigen Newcomern als auch mit alteingesessenen Künstlern.
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